Virtual Reality soll es möglich machen, andere und auch die eigenen Sichtweisen besser zu verstehen – und könnte deshalb bald vermehrt in Therapien eingesetzt werden.

Foto: Josep Lago / AFP

Sie nehmen vor einem langen Schreibtisch aus Holz Platz, die Jalousien sind zugezogen. Neben Ihnen steht ein Spiegel, in dem Sie sich selbst erkennen, und vor Ihnen sitzt niemand anderer als Sigmund Freud. Der berühmte Psychoanalytiker fordert Sie auf, ihm von einem Ihrer Probleme zu erzählen. Während Sie reden, nickt er.

Sind Sie mit Ihrer Schilderung fertig, wird die Umgebung schwarz, und Sie finden sich wenig später im Körper von Sigmund Freud wieder. Ihnen gegenüber sitzt nun ein Patient – Sie selbst, beziehungsweise ein virtueller Avatar, der aussieht wie Sie und noch einmal genau das sagt, was Sie vorher gesagt haben. Anschließend geben Sie als Sigmund Freud der Person Ratschläge und Rückmeldungen – und werden damit quasi zu Ihrem eigenen Psychotherapeuten.

Sicht von außen

Diese Szene ist Teil einer computergenerierten, virtuellen Welt und eines Versuchs von Wissenschafterinnen und Wissenschaftern mit dem Ziel, herauszufinden, wie weit Virtual Reality (VR) Menschen dabei helfen kann, eigene psychische Probleme zu bewältigen. Indem sich Menschen mithilfe von VR-Brillen in einer virtuellen Realität gewissermaßen von außen wahrnehmen, soll dies dabei helfen, persönliche Sichtweisen und Muster zu erkennen und zu hinterfragen.

Dass diese Sicht von außen grundsätzlich behilflich sein kann, zeigt das sogenannte Solomons Paradox. Darunter versteht sich jenes Phänomen, dass Personen generell vernünftiger und einsichtiger agieren, wenn sie an die Probleme von anderen herangehen, als wenn es um ihre eigenen Probleme geht.

Ich- versus Du-Form

Tatsächlich haben Studien herausgefunden, dass es schon allein einen Unterschied macht, ob Personen in Selbstgesprächen in der ersten oder zweiten Person mit sich selbst sprechen. In einem Versuch waren etwa jene Teilnehmer, die in der Du-Form mit sich sprachen, selbstbewusster und weniger ängstlich als jene Teilnehmer, die die Ich-Form benutzten.

Dieser Effekt zeigte sich auch in der VR-Studie mit dem virtuellen Sigmund Freud. Demnach gaben 80 Prozent der 29 Versuchsteilnehmer an, dass sie durch den Versuch ein anderes Gefühl zu ihrem Problem bekamen und sie versuchen würden, in Zukunft anders daran heranzugehen. In einer Kontrollgruppe aus ebenfalls 29 Teilnehmern, die nach der Schilderung ihres Problems nur eine vorgefertigte Antwort des virtuellen Freud erhielten, taten dies nur 40 Prozent.

Beziehungskonflikte aufarbeiten

Laut den Wissenschafterinnen und Wissenschaftern ist es auch möglich, statt Freud künftig andere Personen als virtuelles Gegenüber zu erstellen. Dadurch könnten etwa Beziehungskonflikte mit bestimmten Menschen zunächst einmal in der virtuellen Welt aufgearbeitet werden, in der Hemmungen und soziale Normen möglicherweise eine geringere Rolle spielen.

Allerdings sei die Therapiemethode bisher nur für kleinere Konflikte erprobt und nicht für schwerwiegendere psychische Probleme, wie etwa Depressionen, getestet, geben die Forscher zu bedenken. Erst in einem nächsten Schritt soll der Effekt der VR-Therapie auch mit Menschen, die an Depression leiden, getestet werden. Zudem sollten Therapiemethoden dieser Art immer gemeinsam mit Psychologen und Psychotherapeuten abgesprochen und durchgeführt werden, sagen Experten. Denn für Menschen mit bestimmen psychischen Erkrankungen könnte eine solche Behandlung mitunter auch gefährlich werden.

Viele Therapiemöglichkeiten

Die Methode ist längst nicht die einzige, die versucht, VR-Technologie für Therapiezwecke zu nutzen. Bereits seit einiger Zeit wird die Technologie beispielsweise dafür verwendet, Phobien und Angststörungen zu behandeln. Für Menschen, die unter einer einfachen Phobie, etwa Höhenangst, leiden, kann VR laut Experten helfen, die Person langsam und sicher an die jeweilige Situation heranzuführen und damit die Angst zu überwinden.

Bild nicht mehr verfügbar.

VR wird bereits immer wieder zur Behandlung von Höhenangst eingesetzt.
Foto: Oxford VR via AP

Zudem wurde VR bereits bei der Behandlung von posttraumatischer Belastungsstörung, etwa bei Soldaten, verwendet. Dafür wird beispielsweise eine virtuelle Umgebung simuliert, die einzelne Kriegsszenen zeigt, wodurch gemeinsam mit Psychotherapeuten letztlich ein bestimmtes Trauma aufgearbeitet werden soll. Auch soziale Angststörungen können mittlerweile mit VR behandelt werden. Menschen können soziale Interaktionen dabei etwa in einer sicheren, virtuellen Umgebung durchspielen.

Noch einige Hürden

Ganz ohne Probleme kommt die Technologie aber nicht aus. Noch immer ist die Ausrüstung teuer und daher nur in wenigen Therapieeinrichtungen und für wenige Menschen verfügbar. Zudem funktioniert VR nur bei bestimmten Therapien und kann bei falscher Verwendung die Probleme sogar noch verschlimmern, warnen Experten.

Menschliche Therapeuten wird die Technologie aller Voraussicht nach so bald nicht ersetzen. In Zusammenarbeit mit diesen kann sie aber durchaus dabei helfen, in Zukunft noch weit mehr Menschen in Behandlungen zu unterstützen, sagen Experten. Denn anders als in der realen gibt es in der virtuellen Welt kaum Gestaltungsgrenzen. (Jakob Pallinger, 13.1.2022)