Alpenpflanzen werden im Zuge der globalen Erwärmung an Lebensraum einbüßen.
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Für viele Lebewesen im Alpenraum dürfte es in den kommenden Jahrzehnten eng werden: Nachdem vor allem die Landwirtschaft eine Gefahr für die Biodiversität darstellte, sind Klimaveränderungen als größtes Risiko nachgerückt. Spezies, die an die derzeitigen Bedingungen in hohen Lagen angepasst sind, können angesichts der zunehmenden Erwärmung, die erwartet wird, nur begrenzt in noch höhergelegene Areale ausweichen.

Bei den Analysen und Prognosen genügt es aber nicht, nur die Vielfalt verschiedener Arten im Blick zu haben. Auch die Varianz innerhalb einzelner Arten ist wichtig, wie ein Forschungsteam um Johannes Wessely und Stefan Dullinger von der Universität Wien in einer aktuellen Studie im Fachjournal "Nature Climate Change" herausstreicht.

Klimatoleranz der Typen

In einem Modell simulierte die Gruppe, wie "klimatolerant" unterschiedliche Typen innerhalb von sechs Pflanzenarten sind, die in den Alpen gedeihen. Dazu wurden verschiedene Erwärmungsszenarien bis 2080 durchgespielt, die im aktuellsten IPCC-Report zu den wissenschaftlichen Grundlagen des Klimawandels vorkommen. Wenig überraschend war, dass auf Artenebene ein flächenmäßiger Rückgang errechnet wurde. Auf diesen Lebensraumverlust wiesen bereits frühere Studien hin – für die untersuchten Pflanzenspezies, zu denen unter anderem die Alpen-Nelke (Dianthus alpinus) gehört, falle er "moderat bis massiv" aus.

Pflanzenarten wie die Alpen-Nelke sind von den klimatischen Veränderungen betroffen.
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Doch die Forschungsarbeit lieferte auch ein Ergebnis, das gegen das intuitive Verständnis der Klimawandelkonsequenzen geht. Denn vor allem jene Pflanzen innerhalb einer Art, die genetisch eigentlich gut an höhere Temperaturen angepasst sind, gingen in der Simulation stark zurück. Dies betraf zumindest fünf der sechs untersuchten Arten: das Stängellose Leimkraut (Silene acaulis), das Kopfige Läusekraut (Pedicularis rostratocapitata) sowie Pflanzen mit düster-märchenreifen Bezeichnungen, nämlich die nur in Österreich vorkommende Dunkle Glockenblume (Campanula pulla), das Zwerg-Seifenkraut (Saponaria pumila) und die Halbkugelige Teufelskralle (Phyteuma hemisphaericum).

Nachteil der Wärmeliebenden

Beim Szenario mit der stärksten Erwärmung – um drei bis vier Grad bis zum Jahr 2080 – gingen die wärmeliebenden Typen auch am stärksten zurück. Profitieren konnten nur die Varianten der Alpen-Nelke, die gut an höhere Temperaturen angepasst sind: Sie können sich etwas mehr ausbreiten. Stark gehen die angepassten Typen bei Zwerg-Seifenkraut und Teufelskralle zurück, hier wurde ein Verlust um 75 und 60 Prozent und mehr errechnet. Beim Läusekraut beträgt der Rückgang der hitzeresistenten Exemplare gut ein Drittel, Glockenblume und Leimkraut weichen in der Prognose nur ein wenig zurück.

Dass selbst Pflanzen, die gut mit einem leichten Temperaturanstieg zurechtkommen, unter starker Erwärmung leiden, ist nachvollziehbar. Doch weshalb sind sie der Studie zufolge oft stärker von den Klimaveränderungen betroffen als kälteliebende Exemplare?

Eingequetschte Artgenossen

Das hängt den Experten zufolge auch mit der Besiedlungsgeschichte zusammen. An Kälte angepasste Pflanzen gehören zu den Pionieren, wenn es darum geht, bergaufwärts neue Gebiete zu beschlagnahmen. Alpenpflanzen haben auch eine verhältnismäßig lange Lebensdauer – besetzen sie ein neues Areal, nehmen sie in ihrer Vorreiterrolle daher längerfristig anderen Artgenossen Platz weg, die dieselbe ökologische Nische besetzen. Sie stehen also in Konkurrenz zu Artgenossen, die in kühleren Lagen schlechter florieren.

An wärmere Temperaturen angepasste Exemplare des Stängellosen Leimkrauts (Silene acaulis) dürften Modellrechnungen zufolge bei starker Erwärmung zurückgehen. Insgesamt ist ein Flächenrückgang zu verzeichnen.
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Selbst wenn sich die Durchschnittstemperaturen erhöhen, können sie deshalb noch das Ausbreiten und Überleben der Wärmeliebhaber behindern. Die Folge: Die hitzeresistenten Pflanzen werden in ihrer Ausbreitung nach oben blockiert, verlieren weiter unten aber an Boden, da sie dort kaum zusätzlich an Raum gewinnen. In den Worten des Erstautors Wessely: "So werden die Warmangepassten mehr oder weniger zwischen dem sich erwärmenden Klima und den noch überlebenden kaltangepassten Individuen eingequetscht."

Differenzierte Analysen

Das dürfte der Forschungsgruppe zufolge insgesamt zum berechneten Rückgang bei starken Erwärmungsszenarien sorgen. Offenbar ist es im Alpenraum für wärmeliebende Varianten des Stängellosen Leimkrauts und der Alpen-Nelke im Vergleich aber einfacher, da sie sich kaum mehr in noch höhere Lagen ausbreiten können und daher der Blockadeeffekt der kälteliebenden Artgenossen geringer ausfällt.

Nicht nur bei den untersuchten Pflanzen könnten an Wärme angepasste Varianten sich letztendlich als Fehlanpassung herausstellen. Umso wichtiger ist es, die Klimawandelkonsequenzen lokal zu untersuchen, um potenzielle Strategien zu entwickeln. Dabei geht es nicht nur um Veränderungen auf Ebene der Arten, sondern auch um Unterschiede innerhalb einer Art: Zukünftige Modelle müssen die komplizierten Verhältnisse immer ausgetüftelter berücksichtigen. (sic, 11.1.2022)