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Eine Abwahl von Emmanuel Macron setzen diese Demonstrantinnen und Demonstranten einer "Befreiung Frankreichs" gleich.
Foto: AP Photo/Adrienne Surprenant

Ein Wort hallt durch den französischen Präsidentschaftswahlkampf: "Emmerder." Es bedeutet etwa so viel wie jemandem auf den Wecker gehen, drangsalieren – und stammt vom sattsam bekannten Fluch "Merde!" (Scheiße) ab.

Einem wohlerzogenen Bürger sollte solcherlei nicht über die Lippen kommen, einem Staatspräsidenten noch weniger. Und doch sagte Emmanuel Macron vergangene Woche in einem Interview über die ungeimpften Landsleute, er wolle sie "emmerder" – also so lange nerven, bis sie sich piksen lassen.

Der Eliteschul-Absolvent aus den besseren Kreisen hat nicht einmal die Entschuldigung, er habe volksnah mit vulgär verwechselt: Den Spruch tat Macron sehr bewusst auch in einer autorisierten Schriftfassung. Vermutlich wollte er damit die konservative, in der Impffrage lavierende Gegenspielerin Valérie Pécresse in die Zwickmühle bringen – in gewissem Sinne also auch "emmerder".

Schuss geht nach hinten los

Der Schuss ging allerdings nach hinten los: In der Kritik steht nun Macron. Der Bürgermeister des südwestfranzösischen Dorfes Lavaurette schickte das Porträtbild des Staatspräsidenten, das in Frankreich in jedem Rathaus zu hängen hat, an den Absender zurück. "Seit der Wahl Macrons hat unser Gemeinderat immer unter seinem Blick getagt", erklärte Nils Passedat. "Heute, da Bürger beschimpft werden von einem, der ihnen eigentlich dienen sollte, schicken wir das Porträt zurück, damit Sie es in den Latrinen der Republik recyceln können."

Die Ungeimpften bringt Macron nicht in die Impfzentren, sondern auf die Straße: Am Samstag gingen landesweit 105.000 "emmerdés", wie sie sich nun nennen, auf Kundgebungen – mehr als jemals in den Wochen zuvor.

Gewinnen die monoton gewordenen Anti-Vax-Demos also nun wieder an Dynamik? Als der Präsident am Montag in ein unwettergeschädigtes Tal im Hinterland von Nizza reiste, zeigten die TV-Kameras vor allem eine Frau, die Macron ihre beiden Handflächen entgegenhielt. Darauf stand: "Je t’emmerde" – du kannst mich mal. Macron ließ sich nicht provozieren: "Nur Mut", sagte er gefasst. "Schützen Sie sich und auch die anderen." Damit hob er sich auch von seinem sehr rechten Widersacher Éric Zemmour ab, der in Marseille mit einem Stinkefinger reagiert hatte, als ihm eine Frau ihren eigenen zeigte.

Dass sich Macron nach seinem derben Sager wieder staatsmännisch-souverän gibt, als wäre nichts, wirkt auf viele Franzosen wie pure Schauspielerei. Auch Impfbefürworter goutieren das nicht: Laut einer Umfrage ist zwar eine Mehrheit dafür, Druck auf Ungeimpfte auszuüben – aber nicht mit beleidigenden Sprüchen, die in der politisch gespannten Lage das Öl sind, das ins Feuer gegossen wird.

"Sündenböcke antidemokratischer Wutausbrüche"

Macrons eigene Abgeordneten können davon ein Lied singen. Von den monatlich rund hundert Attacken auf Politiker ist vor allem ihre Partei La République en marche (LRM) betroffen – und indirekt Macron. "Wir sind die Sündenböcke antidemokratischer Wutausbrüche", erklärte diese Woche die Abgeordnete Aurore Bergé. Ihr LRM-Kollege Stéphane Claireaux wurde am Sonntag im Überseegebiet Saint-Pierre et Miquelon mit dem Rücken zur Wand minutenlang mit getrocknetem Seetang beworfen. Er habe den Eindruck gehabt, "gesteinigt" zu werden, erzählte er später.

"Macron überzeugt die Leute nicht mehr, er verärgert sie", resümiert der Kommunikationsberater Denis Pingaud das auslaufende Mandat des Präsidenten. Die liberale Webseite Contrepoints unterstellt ihm "populistisches Marketing". Indem er die Nation spalte, leiste er der Radikalisierung der Kampagne Vorschub.

Impfgegner erklären schon heute in Trump'scher Manier, das Resultat der französischen Präsidentschaftswahlen von April könne nur gefälscht sein, wenn der Wiederwahlkandidat die Kampagne kraft seines Amtes dirigiere. Wenn er das Kandidatenfeld mit genau kalkulierten Sagern zu destabilisieren versuche, denke er nicht an das Allgemeinwohl, sondern nur an sich.

"Gewinner und Verlierer"

Für die Linksabgeordnete Clémentine Autain hat Macron nicht bloß einen "bedauernswerten Spruch" von sich gegeben, sondern "seine Weltsicht". Er denke ganz offensichtlich, die Welt bestehe aus Gewinnern und Verlierern. Damit bestätige er frühere Aussagen wie: "Die beste Art, sich einen Anzug zu leisten, ist zu arbeiten." Oder: "In einem Bahnhof trifft man Leute, die Erfolg haben. Und andere, die nichts sind."

In Meinungsumfragen führt der Präsident zwar mit klarem Vorsprung auf das Trio zu seiner Rechten aus Valérie Pécresse, Marine Le Pen und Eric Zemmour; doch diese Erhebungen sind mit Vorsicht zu genießen. Denn die Wahl besteht aus zwei Urnengängen. Dazu kommt die Covid-Unsicherheit. Und mit seinem Spruch macht Macron eine instabile Kampagne noch unvorhersehbarer. (Stefan Brändle, 11.1.2022)