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Die Luft wird für den Regierungschef Boris Johnson immer dünner.

Foto: Frank Augstein / AP

Zu den traditionsreichen Regeln des Londoner Unterhauses zählt eine Einschränkung der Redefreiheit. Da mag sich jemand "versprochen", sogar "unfreiwillig das Hohe Haus getäuscht" haben – dass ein "ehrenwertes" oder sogar "sehr ehrenwertes" Mitglied des Hohen Hauses "gelogen" haben soll, diese Anschuldigung ist streng verboten.

Es hatte also sein Gutes, dass Labour-Oppositionsführer Keir Starmer sich derzeit wieder einmal in Corona-Isolation befindet und an der Parlamentssitzung am Dienstag nicht teilnehmen konnte. Stattdessen wandte sich der frühere Chef der Staatsanwaltschaft via Twitter an Premierminister Boris Johnson. "Hören Sie auf, die britische Öffentlichkeit zu belügen", stand da kurz und bündig. "Ihre Ausflüchte und Ablenkungsmanöver sind nur noch absurd."

Alkohol zum Selberbringen

Wie schon vor Weihnachten stehen der konservative Parteichef und seine engsten Mitarbeiter in der Downing Street wegen angeblicher Verletzungen von Corona-Einschränkungen im Sperrfeuer von Medien und Opposition. Ist es im Dezember um Ereignisse gegen Ende des Jahres 2020 gegangen, drehen sich die jüngsten Vorwürfe um eine Party vom 20. Mai 2020. Die Einladung dazu versandte Johnsons Privatsekretär Martin Reynolds per E-Mail an mehr als 100 Bedienstete der Regierungszentrale: Man wolle "sozial distanziert" im weitläufigen Garten "das schöne Wetter" genießen, hieß es da, gefolgt von dem Hinweis: "Bringen Sie Ihre eigene Flasche."

Schon damals, so haben die fieberhaften Recherchen britischer Medien in den vergangenen Tagen ergeben, glaubten einige der Angeschriebenen an einen schlechten Scherz: "Ist das ernst gemeint?", schrieb einer. Denn an jenem Tag galt auf der Insel noch immer der strenge erste Corona-Lockdown. Trotz des herrlichen Wetters durften sich die Bürger höchstens mit je einem anderen Menschen – und auch dies nur draußen – treffen. Besuche in Krankenhäusern, Altenheimen, befreundeten Privathaushalten – alles verboten. Für Unternehmen galt die Pflicht, das Arbeiten vom Homeoffice aus zu ermöglichen.

Auf Kontaktverbot gepocht

Am 20. Mai 2020, einem Mittwoch, stand bei der täglichen Pressekonferenz der damalige Kulturminister Oliver Dowden virtuell den Journalisten Rede und Antwort. 268 Covid-Tote verzeichnete die Statistik an jenem Tag. Die düstere Zahl nahm der Minister zum Anlass, an die Regeln zu erinnern und auf deren Einhaltung zu pochen. Eine Stunde später, so legen es die Medienberichte nahe, begann an langen, mit Snacks gedeckten Tischen im Garten jene Party mit rund 30 Teilnehmern, die Johnsons Regierung erneut in die Krise stürzt. Zumal diesmal, anders als bei früheren Gelegenheiten, auch der Premierminister selbst sowie seine damals frisch vom gemeinsamen Sohn Wilfred entbunden gewordene Ehefrau Carrie dabei gewesen sein sollen.

Dass zum wiederholten Mal bekannt wird, in der Downing Street habe man es mit den Vorschriften nicht so genau genommen, hat in dem Land Empörung hervorgerufen. Reihenweise werden in Radio- und Fernsehsendungen schluchzende Britinnen und Briten interviewt, die sich an Besuche bei ihren demenzkranken, sterbenden Eltern erinnern. "Wir durften ihr vom Garten aus zuwinken", schildert eine den letzten Besuch beim Pflegeheim ihrer Mutter. "Ich bin nicht sicher, ob sie mich erkannt hat."

Kritik aus den eigenen Reihen

Im Unterhaus fasste Labours Vizechefin Angela Rayner in Vertretung ihres Chefs Starmer die Vorwürfe der Opposition zusammen: Premier Johnson habe das moralische Recht verloren, zukünftig irgendjemandem Vorschriften zu machen. Die Untersuchung einer Spitzenbeamtin abzuwarten, wie es ein Regierungssprecher nahelegte, sei gänzlich unnötig, schließlich liege Reynolds' Einladung auf dem Tisch.

Wie ernst es diesmal steht, verdeutlicht weniger die Aufgeregtheit der Opposition als vielmehr die Reaktion in der eigenen Partei. Hinter vorgehaltener Hand sagten viele Abgeordnete, was die frühere schottische Parteichefin öffentlich zu Protokoll gab: Die Vorgänge seien "unvertretbar und nicht zu entschuldigen", so Ruth Davidson, die für die Tories im Oberhaus sitzt. Zudem interessiert sich diesmal sogar die Kriminalpolizei für den Vorgang: Man habe mit dem zuständigen Kabinettsbüro Kontakt aufgenommen, teilte ein Sprecher von Scotland Yard mit.

Lametta-Schmuck vor Weihnachten

Johnsons leichtfertigen Umgang mit der Wahrheit hat inzwischen auch die Wählerschaft registriert: In den vergangenen Wochen lag Labour kontinuierlich deutlich vor den regierenden Tories, bei einer Nachwahl vor Weihnachten eroberte eine Liberaldemokratin das Mandat, das seit dem 19. Jahrhundert stets in konservativer Hand gewesen war. Im Wahlkampf vor Ort spielten immer neue Schlagzeilen über unerlaubte Partys in der Downing Street eine große Rolle.

Besonders Furore machte eine Abbildung des Regierungschefs aus dem Advent 2020 mit zwei mit Lametta geschmückten Mitarbeitern – Johnson selbst trug wenigstens korrekten Anzug und Krawatte. Da hätten der Premier und seine Leute "die Öffentlichkeit zum Narren gehalten", fasste Labour-Chef Keir Starmer schon damals die Stimmung im Land zusammen.

Der 57-Jährige Regierungschef wird jetzt offensiv gegen den Vorwurf der Lügenhaftigkeit vorgehen müssen, um seine wackelnde Regierung zu retten. (Sebastian Borger aus London, 11.1.2022)