Besonders starke Sonnenwindereignisse können das Magnetfeld der Erde beeinflussen und hier elektronische Systeme schädigen.

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Die Sonne ist Ausgangspunkt eines stetigen Teilchenstroms, der den interplanetaren Raum durchzieht. Der Sonnenwind, der neben hochenergetischer Strahlung aus diesen geladenen Teilchen besteht, hat auch Auswirkungen auf der Erde. Die Teilchen strömen entlang der magnetischen Feldlinien in die Atmosphäre und lassen die Nordlichter entstehen.

In seltenen Fällen, wenn der Teilchenstrom durch Eruptionen auf der Sonnenoberfläche besonders stark ist, kann der Sonnenwind den magnetischen Schutzschild der Erde beeinflussen und etwa elektronische Systeme lahmlegen. Das ist auch ein Grund, warum die Sonnenaktivitäten von Wissenschaftern genau überwacht und eingehend erforscht werden.

Martin Reiss ist einer dieser Wissenschafter. Der Astrophysiker ist am Grazer Institut für Weltraumforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften auf die Entwicklung und Optimierung mathematischer Modellierungen des Sonnenwindes spezialisiert.

Er wurde für seine Forschungsaktivitäten kürzlich mit der Alexander Chizhevsky Medal for Space Weather and Space Climate ausgezeichnet, die nach dem sowjetischen Raumfahrtpionier benannt ist. Die Medaille geht jährlich an junge Wissenschaftstreibende, die besondere Leistungen in der Erforschung von Weltraumwetter und Weltraumklima erzielen konnte.

Zwei Modellierungen

Martin Reiss wurde mit der Chizhevsky-Medaille ausgezeichnet.
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Zu den Errungenschaften des 1988 geborenen Reiss gehört ein innovativer Modellierungsansatz, der verschiedene Teilbereiche der Berechnung der Sonnenwindausbreitung zusammenbringt. "Die Modellierung des Sonnenwinds betrachtet zwei unterschiedliche Zonen. Der Abschnitt bis etwa zehn Sonnenradien liegt innerhalb der Corona. Hier spielt das Magnetfeld der Sonne eine wichtige Rolle für das Verhalten der Materie", erklärt der aus der Steiermark stammende Forscher.

"An dieser inneren Grenze der Heliosphäre verändern sich die Bedingungen. Der Sonnenwind breitet sich ab dieser besonders heißen Zone im interplanetaren Raum aus. Die Physik ist hier ganz anders und macht auch eine neue Art der Modellierung nötig." Dieses Ausbreitungsmodell ist auch für die Frage relevant, mit welchen Geschwindigkeiten die Teilchenströme die Erde erreichen.

Bisher handelte es sich um zwei voneinander abgeschlossene statische Modelle. Reiss konzentrierte sich im Zuge eines Stipendiums des Wissenschaftsfonds FWF, das ihn von 2018 bis 2020 ans Goddard Space Flight Center der US-Weltraumbehörde Nasa führte, auf den Übergang der beiden Zonen: "Wir haben einen Ansatz entwickelt, der die äußeren Randbedingungen im inneren Modell laufend genau berechnen lässt. Die Ergebnisse können dann automatisch zu Ausgangsdaten im zweiten, äußeren Ausbreitungsmodell werden."

Magnetische Landkarte

Diese adaptive Kopplung der Modelldomänen sorgt dafür, dass die Simulationen genauer voraussagen können, welche Bedingungen im erdnahen Weltraum zu erwarten sind. Ausgangspunkt der Sonnenwindmodelle sind Messungen des Magnetfelds der Sonne, die von der Erde aus durchgeführt werden. Ein globales Netzwerk an Beobachtungsstationen aktualisiert laufend eine "magnetische Landkarte" der Sonne. "Diese Eingangsdaten sind allerdings nach wie vor mit großen Unsicherheiten behaftet", erklärt Reiss. "Auch hier passiert im Moment sehr viel Forschung."

Eine der Schwierigkeiten: Auch die Sonne dreht sich um ihre eigene Achse und benötigt dafür von der Erde aus betrachtet etwa 27 Tage. Der erdabgewandte Teil bleibt den menschlichen Beobachtern verborgen. "Wir sehen immer nur einen Ausschnitt, etwa ein Drittel, der Sonnenoberfläche. Auch die Vorgänge an den Sonnenpolen, die für die Struktur des Magnetfelds besonders relevant sind, können nur eingeschränkt beobachtet werden." Aus den Messdaten wird eine globale Struktur des Sonnenmagnetfelds errechnet.

Nordlichter, auch Polarlichter genannt, sind der optisch wohl schönste Effekt, wenn Sonnenteilchen auf das Erdmagnetfeld treffen. Im Bild der Himmel über dem russischen Murmansk.
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Prognosen

Zuletzt hat Reiss in einem Projekt mit der Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik (ZAMG) – einer Einrichtung des Wissenschaftsministeriums – den Einsatz von Machine-Learning-Algorithmen für die Prognose der Sonnenwindaktivität erprobt. "Das System soll auf Basis der modellierten Bedingungen nahe der Sonne die Sonnenwindaktivitäten im erdnahen Bereich vorhersehen", sagt Reiss.

Basis für das Training der lernenden Algorithmen sind historische Daten. Auch für die Untersuchung der Struktur und der Lokalisierung sogenannter koronaler Löcher, die als Quellen des Sonnenwindes gelten, soll das maschinelle Lernen zum Einsatz kommen. In Kombination mit klassischen Modellierungen erwartet sich Reiss eine maßgebliche Verbesserung der Ergebnisse.

Sonnenwetter-Netzwerker

Bei der Verleihung der Chizhevsky-Medaille wurde neben der Kopplung der Sonnenwindmodelle noch ein weiterer Arbeitsbereich Reiss’ hervorgehoben: sein Bemühen um die Vernetzung der Wissenschaftsszene. Gemeinsam mit Karin Muglach vom Nasa-Goddard-Center hat er zwei Teams gegründet, die sich wichtigen Fragestellungen der Weltraumwetterforschung widmen.

Das eine Netzwerk ist der Erforschung des Sonnenmagnetfelds gewidmet, das andere der Frage der Validierung wissenschaftlicher Ergebnisse. Reiss: "Bisher gibt es beispielsweise zu den Metriken, die bei der Prüfung von Modellierungen benutzt werden sollen, nicht wirklich Einigkeit in der Community. Wir wollen versuchen, diese Dinge auf der ganzen Welt zu vereinheitlichen." (Alois Pumhösel, 12.1.2022)