Bei mehr als 100.000 Kommentaren zu einem Gesetzesentwurf könnte man eine fruchtbare Debatte erwarten. Leider besteht die Mehrzahl der Stellungnahmen zum Impfpflichtgesetz auf der Parlamentswebsite aus schablonenhaften Ablehnungen ohne inhaltlichen Wert. Nur wenige seriöse Institutionen und Fachleute haben sich zu Wort gemeldet.

Dafür nimmt auch unter Medizinern die Debatte über die Impfpflicht an Fahrt auf. Deren Aussagen sind dabei recht widersprüchlich: Der Epidemiologe Gerald Gartlehner meint, man könne nach der Omikron-Welle die Impfpflicht wieder beenden; sein Kollege Herwig Kollaritsch ist hingegen dafür, sie erst nach der Welle einzuführen. Auf der politischen Ebene plädieren indessen Gewerkschaft, Wirtschaftskammer, mehrere SPÖ-Landeschefs und Vertreter der grünen Basis für eine Startverschiebung oder Alternativen zur Impfpflicht.

Die seriösen Skeptiker haben in einem Punkt recht: Die Wirksamkeit der Impfpflicht ist wissenschaftlich nicht erwiesen. Das ist auch der Haupteinwand des Public-Health-Experten Martin Sprenger, eines Dauerkritikers der heimischen Corona-Politik. Er vermisst im Entwurf klar definierte Ziele und eine solide Evidenz.

Der Nutzen der Impfpflicht ist längerfristig, und die Nachteile sind gering.
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Tatsächlich wurden viele Entscheidungen in der Pandemie ohne ausreichende Faktenbasis gefällt. Aber das liegt auch in der Natur eines neuen Erregers, über den erst gesicherte Erfahrungen gesammelt werden müssen. Und dafür fehlte der Politik von Anfang an die Zeit.

Bei der Impfpflicht ist der Mangel an Daten noch eklatanter. Denn Österreich ist hier Vorreiter. Das macht seine Bevölkerung zu Versuchskaninchen, an denen nun getestet wird, ob ein solches Gesetz die Durchimpfungsrate auf ein Niveau heben kann, das eine Überlastung des Gesundheitswesens durch Infektionswellen verhindert. Wir wissen es nicht, lautet die einzige seriöse Antwort.

Niederschwellige Impfangebote

Die Unsicherheit wurde durch die Omikron-Mutation noch verstärkt, weil sie den Schutz der bestehenden Impfungen vor Ansteckungen verringert. Das ist auch der Grund, warum einige Wissenschafter von ihrem Ja zur Impfpflicht abrücken. Aber dass die Impfung vor schweren Verläufen schützt, die zu Aufenthalten im Spital oder auf der Intensivstation führen, wird von ihnen nicht bezweifelt.

Offen ist auch, wie viele Ungeimpfte durch eine Impfpflicht umgestimmt werden können. Aber eines ist gewiss: An Informationen und niederschwelligen Impfangeboten hat es in Österreich entgegen den Behauptungen vieler Kritiker nicht gefehlt. Die Durchimpfungsrate des Landes ist im internationalen Vergleich nicht so schlecht – wenn auch immer noch zu gering. Aber das ist sie in fast jedem Land der Welt.

Deshalb ist es richtig, dass die Regierung die bereits beschlossene Impfpflicht allen Unwägbarkeiten zum Trotz durchzieht – und damit auch anderen Ländern wichtige Erfahrungswerte liefert. Der Nutzen ist längerfristig, und die Nachteile sind gering. Aus Verfassungssicht gibt es keine ernsthaften Bedenken: Wenn Menschen zu einem Stich verpflichtet werden, der sich milliardenfach als sicher, weitgehend wirkungsvoll und oft lebensrettend erweist, ist dies ein gelinder Eingriff in persönliche Freiheiten.

Beim Kampf gegen die Pandemie tappt die Politik ständig im Dunkeln. Entscheidend ist, wie bei dieser ungelenken Suche der Schaden minimiert werden kann. Die geplante Impfpflicht erfüllt diese Anforderung ganz gut. (Eric Frey, 12.1.2022)