Vielleicht ist es ein bisschen viel verlangt, ausgerechnet von Boris Johnson so etwas wie Anstand zu erwarten. Zu oft hat Großbritanniens Premier bewiesen, dass er Regeln nur dann ernst nimmt, wenn sie ihm nutzen – und dass er sich notfalls in Halbwahrheiten und halbherzige Reuebekundungen flüchtet, um seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Die Öffentlichkeit, so Johnsons Kalkül, vergisst schließlich rasch. So manchen Skandal – die teure Renovierung seiner Dienstwohnung, öffentliche Geldspritzen für seine Geliebte und schließlich der Versuch, zugunsten eines Parteifreundes ein Korruptionsverfahren zu kippen – hat der Brexit-Premier auf diese Art erfolgreich ausgesessen.

Der Wind hat sich für Boris Johnson gedreht.
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Nun könnte Johnson den Bogen aber überspannt haben. Seit ruchbar wurde, dass sein Privatsekretär im Mai 2020 – als die Bevölkerung unter strengen Kontaktbeschränkungen ächzte – zum feuchtfröhlichen Umtrunk mit Johnson und dessen Ehefrau im Garten der Downing Street geladen hatte, hat sich der Wind gedreht.

Und er bläst Johnson eisig ins Gesicht. In Umfragen deuten vier von zehn Tory-Wählern an, Johnson lieber heute als morgen aus dem Amt jagen zu wollen. Und auch immer mehr Abgeordnete wenden sich vor der wichtigen Regionalwahl im Mai von ihrem einstigen Hoffnungsträger ab. Partys zu feiern, während der Rest des Landes im Lockdown sitzt, ist offenbar sogar für die Brexit-Konservativen eine Anstößigkeit zu viel. (Florian Niederndorfer, 13.1.2022)