Multiple Sklerose (MS) ist Europas häufigste Autoimmunerkrankung des zentralen Nervensystems. Dank der Fortschritte der Medizin ist sie recht gut behandelbar – auch wenn sie je nach Patient sehr unterschiedliche Verläufe nehmen kann. MS bricht oft schon in jungen Jahren aus. Die ersten Symptome treten meist bereits zwischen dem 15. und 40. Lebensjahr auf und sind oft nicht sehr eindeutig: Sehstörungen und Taubheitsgefühle in den Beinen gehören dazu – beides Folgen der entzündeten Nerven.

Bei etwa 90 Prozent der Betroffenen – weltweit gibt es rund 2,5 Millionen – verläuft MS in den ersten zehn bis 15 Jahren in Schüben, die einige Tage oder Wochen anhalten können. Anfangs bilden sich die Einschränkungen in der Regel wieder zurück, später meist nicht mehr.

So unterschiedlich die Verläufe der Erkrankung sind (was Prognosen entsprechend schwierig macht), so unklar sind ihre Ursachen. Doch nun scheint sich laut einer neuen Studie im Wissenschaftsjournal "Science" ein Verdacht zu erhärten. Und das könnte auch dabei helfen, MS behandelbar zu machen.

Verschiedene Auslöser

Die Wissenschaft geht davon aus, dass mehrere Faktoren zur Krankheitsentstehung beitragen dürften. Neben einer offensichtlichen genetischen Veranlagung für die Autoimmunerkrankung dürften weitere Faktoren wie Umwelteinflüsse dazukommen. Als weitere Risikofaktoren gelten Fettleibigkeit im späten Kindes- beziehungsweise frühen Erwachsenenalter, Schichtarbeit, ein gestörter Tag-Nacht-Rhythmus in jungen Jahren sowie bestimmte Darmbakterien.

Seit einigen Jahren wird in der Fachwelt besonders darüber diskutiert, dass ein konkreter MS-Auslöser eine Infektion mit dem Epstein-Barr-Virus (EBS) sein könnte. Dieses Virus gehört zu den Herpesviren, ist weitverbreitet (90 Prozent der über 30-Jährigen tragen es in sich) und führt bei 30 bis 60 Prozent der im jugendlichen Alter Infizierten zum Ausbruch des Pfeifferschen Drüsenfiebers.

Das ist ausnahmsweise nicht Sars-CoV-2, sondern ein Epstein-Barr-Virus, das für das Pfeiffersche Drüsenfieber sorgt. Es dürfte auch multiple Sklerose auslösen können.
Illustration: Kateryna Kon via www.imago-image

Zehn Millionen Studienteilnehmer

Hauptproponent dieser Hypothese ist der US-Wissenschafter Alberto Ascherio von der Harvard University, der auch der Frage nachgeht, inwiefern auch ein niedriger Vitamin-D-Spiegel zur multiplen Sklerose beiträgt. Denn die internationalen MS-Zahlen, die leicht steigen, zeigen, dass die Erkrankung auf der Nordhalbkugel in nördlicheren Regionen deutlich weiter verbreitet ist als in südlichen.

Die neue Studie des Teams um Ascherio konzentriert sich ganz auf das EBS als möglichen Hauptauslöser und tut das auf Basis einer beeindruckenden Stichprobe: Die Forschenden werteten nämlich Blutproben von nicht weniger als zehn Millionen Militärangestellten aus, die jährlich mit einer Blutentnahme routinemäßig auf HIV getestet werden. Unter den zehn Millionen identifizierten die Forschenden 801 Personen mit MS und untersuchten deren Blutproben auf EBV-Antikörper.

Infektion vor MS-Ausbruch

Bei 35 Personen mit MS konnten keine Antikörper gegen EBV nachgewiesen werden – sie waren zum Zeitpunkt der ersten Blutprobe also noch nicht mit EBV infiziert und daher seronegativ. Vor dem Ausbruch der multiplen Sklerose infizierten sich allerdings 34 der 35 Personen mit dem Virus und entwickelten auch Antikörper gegen EBV. Die EBV-Seropositivität war zum Zeitpunkt der MS-Entwicklung nahezu allgegenwärtig: Nur einer der 801 MS-Fälle war zum Zeitpunkt des Ausbruchs EBV-seronegativ.

Was bedeuten diese neuen Erkenntnisse? "Die Daten sprechen definitiv für eine Korrelation von EBV-Infektion und MS, was eine Kausalität wahrscheinlich macht", sagt der deutsche Experte Wolfgang Hammerschmidt (Helmholtz-Zentrum München). Mit anderen Worten: Die Studie mache es sehr wahrscheinlich, dass eine EBV-Infektion Voraussetzung für MS ist.

Etwas zurückhaltender in der Bewertung ist Roland Martin, Neuroimmunologe und MS-Spezialist am Universitätsspital Zürich: "Ob nun das EBV der wichtigste Umweltfaktor ist oder einer unter mehreren, kann die Studie meines Erachtens nicht abschließend klären. Was man auch noch hinzufügen sollte, ist, dass auch für andere Viren und nach Impfungen der Zusammenhang mit dem Beginn einer MS beziehungsweise das Auslösen eines Schubs gezeigt wurde."

Hoffnung auf Impfung

Zudem ist der Mechanismus, der hinter der Ausbildung von MS im Zusammenhang mit einer EBV-Infektion stecken dürfte, durch diese Untersuchung noch nicht geklärt. So bleibt unbeantwortet, warum zum Glück nur ein sehr kleiner Teil der EBV-Infizierten – bis zum 40. Lebensjahr tragen rund 98 Prozent das Virus in sich – auch tatsächlich MS entwickelt.

Andererseits: Wenn EBV eine Voraussetzung für MS ist, dann ließe sich etwa durch eine vorbeugende Impfung gegen das EBV auch multiple Sklerose vermeiden. Das ist auch die Hauptschlussfolgerung von Ascherio und seinem Team.

Wolfgang Hammerschmidt ist zwar skeptisch, dass ein EBV-Impfstoff entwickelt werden kann, der eine völlig sterile Immunität gewährleistet. Ein Vakzin gegen das Pfeiffersche Drüsenfieber sei aber durchaus denkbar – im Idealfall mit dem Extravorteil, das zusätzliche Risiko der Entstehung von MS auszuschalten. (Klaus Taschwer, 13.1.2022)