Man könnte fast glauben, dass sich derzeit die größte politische Protestbewegung in der Zweiten Republik formiert. Zumindest wenn man verfolgt, wie sich Corona-Leugner und Impfgegner online austauschen. Kaum neigt sich eine Demonstration dem Ende zu, heißt es bereits: Hunderttausende seien auf der Straße gewesen, um gegen die angebliche "Diktatur" aufzustehen.

Demonstration gegen die Impfpflicht in Innsbruck.
Foto: imago images/Michael Kristen

Es ist immer noch besorgniserregend, dass sich, wenn auch nicht Hunderttausende, so immerhin Zehntausende unter zum Teil radikalen und wissenschaftsfeindlichen Parolen versammeln. Aber die Realität setzt das Ganze schon in ein anderes Verhältnis. Gleiches gilt für offene Briefe, die in letzter Zeit gehäuft versendet werden. Solche Aktionen erwecken oft den Eindruck, es handle sich hier um einen Massenprotest. Die Nachricht, dass 600 Polizisten den Innenminister auffordern, sich gegen die Corona-Maßnahmen zu stellen, lässt aufhorchen. Oder die Info, dass sich angeblich über 200 Hebammen an ihre Standesvertretung wenden, um vor der Impfung zu warnen. Bloß scheint immer nur ein geringer Bruchteil der angeblich hunderten Unterstützer namentlich auf.

Von größtenteils anonymen Absendern, die im Zusammenhang mit der Impfung Worte wie "Gentherapeutika" in den Mund nehmen, sollte man sich aber nicht blenden lassen. Es ist irreführende Stimmungsmache. Und wenn gar Falschinfos verbreitet werden, um Unsichere aufzuhetzen, ist das nichts anderes als Propaganda. Also genau das, was die einschlägigen Rädelsführer der "Lügenpresse" immerzu vorwerfen. Es ist eine radikalisierte Minderheit, die versucht, die Mehrheit für sich zu gewinnen. Die Spaltung der Gesellschaft, die aus dieser Ecke fortwährend beklagt – aber schließlich genau dort erzeugt – wird, verläuft nicht in der Mitte, sondern am Rand.

Diese Erkenntnis darf aber über eines nicht hinwegtäuschen: Von dieser Minderheit geht dennoch eine relevante Gefahr aus. Ihr Einfluss auf zögerliche Impfskeptiker und Politikverdrossene sollte nicht unterschätzt werden. Ebenso wenig sollte das Gewaltpotenzial des harten Kerns verkannt werden. Hier sollten Behörden entschlossen vorgehen. Und jene Institutionen, die mit haltlosen offenen Briefen konfrontiert werden, wären gut beraten, sich die Aktivitäten der Initiatoren genauer anzuschauen – selbst wenn es nur wenige sein sollten. Vor allem die Polizei. (Vanessa Gaigg, 16.1.2022)