Unverblümte Aufforderung einer Gaststätte: Was die Mehrheit der Geimpften für nötig halten, empfinden Ungeimpfte als Ausgrenzung.

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Frau A. kamen die Tränen. Plötzlich hat der PCR-Test nicht mehr gereicht, ohne Impfnachweis kein Zutritt zum Eislaufplatz. "Nie in meinem Leben", sagt sie, "habe ich mich so beschämt gefühlt."

Der Schock ist zwei Monate her, die Verzweiflung aber nicht verflogen. "Ausgeschlossen und entrechtet" kommt sich die 55-Jährige vor, seit sie weder Schuhe kaufen noch ins Kaffeehaus gehen, ja nicht einmal auf der örtlichen Langlaufloipe an der frischen Luft ihre Runden drehen darf. Zweimal pro Woche lasse sie sich testen, erzählt die AHS-Lehrerin, doch die Impfung mache ihr wegen der unabsehbaren Langzeitfolgen Angst. Beim Essen lehne sie Genmanipuliertes ja ebenfalls ab, sagt sie: "Ich kann mir nicht einmal vorstellen, dass so etwas in meinen Körper hineinkommt."

Fast alle Vergnügungen verwehrt

Rund 1,1 Millionen Menschen in Österreich empfinden wohl ähnlich. Seit 15. November gilt für alle Ungeimpften über 15 Jahren, die in den letzten sechs Monaten keine Covid-Infektion durchgemacht haben, ein Lockdown. Ohne 2G-Nachweis – geimpft oder genesen – bleiben Wirtshäuser, Hotels, Museen, Theater, Bäder und die meisten anderen Vergnügungen ebenso versperrt wie Friseure und ähnliche Dienstleistungen. Tabu sind sämtliche Geschäfte, die nicht dem lebensnotwendigen Bedarf dienen. Die Wohnung darf, zumindest theoretisch, nur in Ausnahmefällen verlassen werden.

DER STANDARD

Verhängt hat die Regierung die drakonischen Maßnahmen, als sich im Herbst eine von der Delta-Variante getriebene Corona-Welle aufbaute. Jetzt schießen die Zahlen wieder nach oben, am Freitag erreichte die Kurve ein All-Time-High von 16.822 Infektionen. Und dennoch: Die Omikron-Mutation hat die Bedingungen verändert. Ist der Ausschluss so vieler Bürger vom sozialen Leben da noch gerechtfertigt?

Das Risiko der Ungeimpften

Wer nach Argumenten für den Lockdown sucht, landet zuallererst in den Spitälern. In Wien etwa haben derzeit nur mehr 29 Prozent der Bevölkerung kein gültiges Impfzertifikat, und doch entfallen auf diese Gruppe 86 Prozent der Covid-Patienten auf den Intensivstationen.

Dass auch Omikron die Immunisierung nicht völlig unterläuft, zeigen Daten aus Großbritannien: Zwei Stiche senken das Risiko für Covid-Infizierte, im Spital zu landen, nach 25 Wochen noch um 52 Prozent. Nach dem Boostern beträgt der Vorteil sogar 88 Prozent. Impfen wird also auch in der anbrechenden Welle schützen.

Allerdings: Eine Überlastung des Gesundheitssystems – Hauptargument für alle Restriktionen bisher – zeichnet sich derzeit nicht ab. Omikron verursacht seltener schwere Verläufe als Delta, immer mehr Menschen sind geimpft. Die Zahl der Covid-Patienten auf den Intensivstationen sinkt seit Wochen. Mit zuletzt 228 sind es nur etwa halb so viele wie Mitte November, als der Lockdown für Ungeimpfte begann.

Drohende Trendwende Ende Jänner

Peter Klimek warnt jedoch vor voreiligen Schlüssen. Jede Welle starte bei den widerstandsfähigen Jungen, sagt das als Wissenschafter des Jahres ausgezeichnete Mitglied des offiziellen Prognosekonsortiums. Ende Jänner, wenn Omikron auf die Älteren übergeschlagen ist, kündige sich eine Trendwende an.

Auch Christiane Druml will Verweise auf die entspanntere Situation "so nicht stehen lassen". Der letzte Lockdown wirke nach, die Gefahr der Überlastung sei keineswegs ausgeräumt. Die Einschränkungen für Ungeimpfte hält die Leiterin der im Kanzleramt angesiedelten Bioethikkommission deshalb nach wie vor für gerechtfertigt. "Solange von Ungeimpften eine größere epidemiologische Gefahr ausgeht, ist das keine unzulässige Ungleichbehandlung", argumentiert sie: "Selbst wenn die Impfung nicht hundertprozentig wirkt, bleibt da ein eindeutiger Unterschied. Die eigenen Freiheitsrechte erlauben einem nicht, andere zu gefährden."

Der Gesundheitsminister sieht das nicht anders. Eine zu frühe Lockerung für Ungeimpfte, sagt Wolfgang Mückstein (Grüne), könne schnell wieder zu einer unkontrollierten Verbreitung des Virus und zu einer Überlastung der medizinischen Versorgungseinrichtungen führen.

Privat treffen statt beim Wirt

Doch dieses Argument setzt voraus, dass der selektive Lockdown wirklich Infektionen einschränkt. Gerade das ist aber fraglich. Der Complexity Science Hub (CSH) fand keine Anzeichen dafür, dass die Mobilität in Bezirken mit vielen Impfmuffeln stärker abnahm als anderswo – womöglich treffen Menschen einander privat statt etwa beim Wirt. Die Untersuchung stammt vom November, doch CSH-Forscher Klimek sieht keinen Grund, warum sich das geändert haben sollte.

Obendrein ist die Gruppe der Ungeimpften ziemlich geschrumpft – unter den über 55-Jährigen, die vor allem vom Spitalsaufenthalt bedroht sind, beträgt der Anteil keine 14 Prozent mehr. Das dämpft die Bedeutung für das Infektionsgeschehen, gerade angesichts einer impfresistenteren Variante. "Der Lockdown für Ungeimpfte hilft nicht, die anlaufende Welle zu bremsen", sagt Klimek: "Die Wirkung war schon vor Omikron fraglich und ist jetzt noch fraglicher."

Eine stärkere Rechtfertigung sieht er im Motiv, Menschen auf diesem Weg zum Impfen zu bewegen. Doch ob das gut funktioniert, lässt sich bis dato schwer belegen. Zwar stieg die Impfquote laut dem Austrian Corona Panel Project (ACPP) mit November an, aber das kann auch an der zeitgleich in Kraft getretenen 3G-Regel am Arbeitsplatz liegen.

Eine Frage der Gerechtigkeit

Ob der Nutzen den Lockdown für Ungeimpfte rechtfertige, müsse die Politik abwägen, bilanziert Klimek: Wenn ja, dann dürfe die Maßnahme nur ein Element von vielen sein. Stärker falle etwa ins Gewicht, dass eine größere Gruppe der Älteren noch keinen dritten Stich hat.

Auch Gerald Gartlehner von der Donau-Uni Krems sieht in der Maßnahme lediglich einen kleinen Baustein. Doch im Verbund mit anderen trage das 2G-Gebot schon zur Bremsung der Welle bei, glaubt er: "Solange Spitäler von Überlastung bedroht sind, halte ich die Regel für absolut notwendig." Das Hauptmotiv der Politik sei aber wohl, ein Signal der Gerechtigkeit zu senden.

Unter den Geimpften pflichtet ihm da eine breite Mehrheit bei. Laut ACPP-Umfrage von Ende November, Anfang Dezember plädieren jeweils um die 70 Prozent für 2G bei Veranstaltungen und in der Gastronomie. Im Kreis der Ungeimpften sind – no, na – über 80 Prozent dagegen, wobei der Verzicht aufs auswärts Essen- und Trinkengehen am meisten schmerzt.

Frau A., die ungeimpfte Lehrerin, hat einen anderen wunden Punkt. Mit der Impfung kokettiere sie höchstens deshalb, weil sie wieder ihre Mutter im Pflegeheim besuchen wolle, ohne dass diese bei Minusgraden rauskommen muss. Doch der Druck von oben halte sie stets von Neuem ab: "Der Lockdown macht mich nur noch wütender."

Verlassen und vergessen fühle sie sich, und von den Medien ungehört: "Wenn wir vorkommen, dann als Rechtsextreme, Ungebildete und Esoteriker." Weit sei es gekommen. Wenn sie sich eines am meisten wünsche: "Dass ich mich infiziere, um als genesen zu gelten." (Gerald John, 15.1.2022)