Die internationale Gemeinschaft muss stärkeres Engagement zeigen, etwa die Lockerung oder Aufhebung mancher Wirtschaftssanktionen, fordern der frühere britische Premier Gordon Brown und UN-Nothilfekoordinator Martin Griffiths im Gastkommentar.

Bild nicht mehr verfügbar.

In Afghanistan kommt es immer wieder zu Lebensmittelknappheit. Ohne
internationale Hilfe könnte "so gut wie jedem Mann, jeder Frau und jedem
Kind in Afghanistan" akute Armut drohen, warnt UN-Generalsekretär Antonio Guterres.
Foto: Reuters / Stringer

Seit dem dramatischen Abzug der US-Armee und anderer westlicher Streitkräfte aus Afghanistan sind nun mehr als vier Monate vergangen. Mit Sonderflügen sowie der Lockerung von Asylbestimmungen und der Freigabe von Geldern brachten westliche Länder einige tausend glückliche Afghanen in Sicherheit, als die Taliban die Kontrolle über das Land zurückeroberten. Doch die Zurückgebliebenen – ob Taliban-Anhänger oder nicht – sind vom Rest der Welt abgeschnitten.

Vielfach auf Geheiß der Vereinigten Staaten haben etliche Staaten internationale Banktransaktionen und den Handel mit Afghanistan eingefroren, indem sie unzählige der in den letzten 20 Jahren verabschiedeten Bestimmungen zur Terrorismusbekämpfung in Kraft setzten. Infolgedessen konnte den öffentlich Bediensteten in Afghanistan kein Gehalt mehr bezahlt werden und die Wirtschaft brach zusammen. Zahlreiche – auch lebenswichtige – Entwicklungshilfeprojekte kamen zum Erliegen oder wurden gestrichen.

"Die Herausforderungen sind immens."

Der Beginn des strengen afghanischen Winters hat folglich steigende Preise mit sich gebracht, und Nahrung wird zunehmend knapp. Schulen, Kliniken und Krankenhäuser im ganzen Land haben den Betrieb eingestellt. Genau zu einem Zeitpunkt also, da die Menschen in Afghanistan mehr Hilfe brauchen, wird ihnen auch noch das Nötigste verwehrt. Das ist ein hoher Preis dafür, von den Taliban regiert zu werden.

Internationale humanitäre Hilfskräfte und die afghanischen Gemeinschaften selbst geben ihr Bestes, um den Transport von Lebensmitteln sowie den Betrieb von Kliniken und Schulen sowohl für Jungen als auch für Mädchen aufrechtzuerhalten. Doch die Herausforderungen sind immens. Den Menschen in Afghanistan drohen mittlerweile enorme Entbehrungen und sogar eine Hungersnot dramatischen Ausmaßes.

Ändert sich nichts an der aktuellen Lage, wird in diesem Jahr beinahe das ganze Land mit akuter Armut konfrontiert sein. Am Ende dieses Winters könnten fast 97 Prozent der Bevölkerung zu arm sein, um ohne Hilfe zu überleben.

Sanktionen sind kontraproduktiv

Der Rest der Welt und insbesondere die Industrieländer sollten nicht glauben, sie könnten einfach eine Tür schließen und diese sich ausweitende Tragödie vergessen. Abgesehen vom moralischen Aspekt wird die aus dem Zusammenbruch Afghanistans resultierende Instabilität weit über die Grenzen des Landes spürbar sein. Viele Menschen in Afghanistan könnten sich dazu entschließen, mit den Füßen abzustimmen, und in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft das Land verlassen, während notleidende Bauern die einheimische Drogenwirtschaft ankurbeln.

Es ist daher einfach nicht zu fassen, dass die Vereinten Nationen und die internationalen Hilfsorganisationen Schwierigkeiten haben, die erforderlichen Mittel aufzubringen, um Afghanistan vor dem Abgrund zu bewahren. Die gegen die Taliban-Führung gerichteten Sanktionen zeigten einen unbeabsichtigt kontraproduktiven Effekt. Sie behindern nämlich die Möglichkeiten der Hilfsorganisationen, Mittel zu beschaffen und auszugeben – obwohl es inzwischen erfreuliche Anzeichen für eine Aufhebung dieser perversen Beschränkungen gibt.

"Der derzeitige Zusammenbruch ist ein einziger Albtraum"

Es ist natürlich richtig, sich für die Bildung von Mädchen einzusetzen. Aber es ist – wie es die afghanische Analystin Orzala Nemat vom Institut für Orientalistik und Afrikanistik der Universität London kürzlich formulierte – nicht richtig, diesen Mädchen die lebensnotwendige Grundversorgung mit Nahrung, Wasser und Gesundheitsleistungen vorzuenthalten.

Ob aus afghanischer Sicht oder aus dem Blickwinkel des Eigeninteresses der westlichen Politik betrachtet: Der derzeitige Zusammenbruch ist ein einziger Albtraum. Anstatt den Kopf in den Sand zu stecken, muss die internationale Gemeinschaft handeln. Vor allem drei Maßnahmen können ergriffen werden, ohne damit das Tun der Taliban zu honorieren.

Erstens gilt es, Geld zur Verfügung zu stellen. Die Vereinten Nationen werden versuchen, im Jahr 2022, 4,5 Milliarden US-Dollar als Hilfe für die am stärksten gefährdeten Menschen in Afghanistan aufzubringen. Bei diesem Plan handelt es sich um eine Notlösung für über 21 Millionen Menschen, die Nahrung, Unterkunft, medizinische Versorgung und Schutz brauchen. Die internationale Gemeinschaft kann eine derartige Summe mit Sicherheit aufbringen. Eine Geberkonferenz Anfang des Jahres wird dazu beitragen, die Aufmerksamkeit auf das Thema zu lenken.

Darüber hinaus hat der UN-Sicherheitsrat vor kurzem eine Resolution verabschiedet, die Ausnahmen für humanitäre Aktivitäten von den gegen einige Taliban-Mitglieder verhängten Sanktionen vorsieht. Die Maßnahme bietet Finanzinstituten und Akteuren der Wirtschaft Rechtssicherheit, nicht gegen bestehende Sanktionen zu verstoßen, wenn sie mit humanitären Organisationen zusammenarbeiten. Regierungen und Finanzinstitutionen müssen das Beste aus dieser neuen Chance machen: Es darf keine Ausreden mehr geben.

Zweitens gilt es beim Einsatz von Gebermitteln mehr Flexibilität an den Tag zu legen. So verwaltet beispielsweise die Weltbank 1,5 Milliarden US-Dollar treuhänderisch für Afghanistan. Kürzlich hat man nun eine Vereinbarung angekündigt, wonach 280 Millionen Dollar ausbezahlt werden sollen – ein Teil an das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (Unicef) für Gesundheitsversorgung und ein anderer Teil an das Welternährungsprogramm. Nun muss der gesamte Fonds neu aufgestellt werden, um den Menschen in Afghanistan über den Winter zu helfen.

Es sollte überdies möglich sein, mit Gebermitteln die Gehälter der öffentlich Bediensteten zu zahlen und afghanische Einrichtungen bei der Erbringung grundlegender Dienstleistungen wie Gesundheitsversorgung und Bildung zu unterstützen, ohne dass dies als Belohnung für die Taliban angesehen wird. Eine derartige Unterstützung bei wesentlichen staatlichen Aufgaben wird den Menschen in Afghanistan Hoffnung für die Zukunft und auch einen Grund geben, ihr Land nicht zu verlassen. Die Aushöhlung des Staates hingegen ist ein Rezept für Leid und Instabilität.

Drittens muss die internationale Gemeinschaft klüger werden, wenn es darum geht, in welcher Weise sie sich in Afghanistan engagiert. Derzeit wartet die Welt auf Fortschritte der Taliban hinsichtlich verschiedener internationaler Normen, ohne klar zu definieren, was von dem Regime erwartet wird. Unterdessen sind die Taliban entweder nicht bereit, diese Erwartungen zu erfüllen, oder zu intransparent im Hinblick auf ihre Absichten.

Mit diesem Ansatz ist der Fehlschlag praktisch vorprogrammiert. Die internationale Gemeinschaft muss viel entschlossener und konkreter in ihren Forderungen sein und viel stärkeres Engagement zeigen. Dazu könnte die Lockerung oder Aufhebung mancher Wirtschaftssanktionen ebenso gehören wie die schrittweise Wiedereinführung längerfristiger Entwicklungshilfe als Reaktion auf Fortschritte in Fragen von internationalem Interesse – wie etwa im Bereich der Rechte von Frauen und Mädchen.

Diese Schritte sollten nicht nur als ein Akt der Großzügigkeit angesichts des entsetzlichen Leids gewertet werden. Die Welt muss den Menschen in Afghanistan die von ihnen benötigte Unterstützung zukommen lassen, denn die katastrophalen Folgen eines Fehlschlags werden nicht allein sie zu tragen haben. (Gordon Brown, Martin Griffiths, Übersetzung: Helga Klinger-Groier, Copyright: Project Syndicate, 16.1.2022)