Der Jahrestag des Kapitol-Aufstands ist vorbei, jetzt gilt es, sich auf das Gesamtbild zu konzentrieren. Die Republikaner sind durch Wählerunterdrückung nicht zu retten, sagt James K. Galbraith, Professor für Staatsbürgerkunde an der University of Texas in Austin, im Gastkommentar.

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In der Pandemie waren die Wahlleitungen vor Ort innovativ, so waren etwa Wahllokale rund um die Uhr geöffnet.
Foto: AP / Brynn Anderson

Die große Anomalie der US-Präsidentschaftswahl 2020 war, dass Joe Biden landesweit mehr als sieben Millionen Stimmen Vorsprung hatte, doch der Verlust von 43.000 Stimmen (in drei umkämpften Staaten) ausgereicht hätte, um die Mehrheit im Electoral College zu verfehlen und damit die Wahl zu verlieren. In Kalifornien allein hatte Biden fünf Millionen Stimmen mehr als nötig, und in New York weitere zwei Millionen.

In diesem Jahrhundert hat bisher nur Barack Obama klare Mehrheiten bei der Zahl der abgegebenen Stimmen und im Electoral College erzielt. In den Jahren 2000 und 2016 verlor der Kandidat beziehungsweise die Kandidatin mit den meisten Stimmen die Wahl. Im Jahr 2004 wurde das Ergebnis durch einen einzigen Staat entschieden: Ohio. Diese Anomalie ist nicht nur von bleibender Art, sondern auch verfassungskonform und daher praktisch nicht auflösbar.

"2020 bewies, dass das wahre Problem schon immer Hürden bei der Stimmabgabe waren."

Trotzdem war die Wahl 2020 ein Triumph für die Demokratie. Die Wahlbeteiligung als Prozentsatz der Wahlberechtigten lag höher als bei jeder anderen Wahl seit dem Jahr 1900. Die Covid-19-Pandemie zwang die Wahlleitungen vor Ort, innovativ zu agieren, und das taten sie durch Ausweitung der Briefwahl, durch Tage zur vorfristigen Stimmabgabe, die Öffnung von Wahllokalen rund um die Uhr und das Wählen vom Fahrzeug aus. Mehr als 100 Millionen Stimmen wurden vor dem Wahltag abgegeben. Am Ende erhielt Donald Trump elf Millionen Stimmen mehr als 2016 und Biden 15 Millionen Stimmen mehr als Hillary Clinton 2016.

Geglücktes Experiment

Die niedrige Wahlbeteiligung in den USA wird normalerweise auf die Apathie der Wählerinnen und Wähler zurückgeführt, doch 2020 bewies, dass das wahre Problem schon immer Hürden bei der Stimmabgabe waren. Bei früheren Wahlen gab es kaum Wahllokale, die Stimmzettel waren lang und komplex, und der Prozess insgesamt war langwierig: Die Warteschlangen erstreckten sich häufig über Stunden. Vielen Menschen fehlt es an Zeit, Geduld oder der körperlichen Ausdauer, zu warten.

Das System schreckte zudem von Veränderungen beim Wahlverhalten ab, weil die örtlichen Wahlleitungen Maschinen und Wahlhelfer gemäß der Wahlbeteiligung in der Vergangenheit zuwiesen. Daher gab es für neue Wählerinnen und Wähler bei einem Anstieg der Wahlbeteiligung nie genug Maschinen, wenn die Wahlbeteiligung irgendwo aus irgendeinem Grund stieg. Die Wahl 2020 war daher ein großes, unbeabsichtigtes Experiment bei der Beseitigung von Wahlhindernissen – und es funktionierte.

Suche nach Auffälligkeiten

Diejenigen, die von Wahlbetrug sprechen, führen als Beweis den enormen Anstieg bei der Wahlbeteiligung an. In Wahrheit stieg die Wahlbeteiligung in den sogenannten "Swing States" nicht stärker als in Staaten, in denen das Ergebnis außer Frage stand. Eine Ausnahme war Arizona, wo die Wahlbeteiligung um 30 Prozent zunahm. Wenn man allerdings Arizonas starkem Bevölkerungswachstum Rechnung trägt, so ähnelt der prozentuale Anstieg dem in Kalifornien, wo Wahlbetrug unsinnig gewesen wäre. Zudem wurde die Wahl in Arizona durch republikanische Behördenvertreter geleitet.

Auch die Stimmauszählungen nehmen sich nicht verdächtig aus. Die Stimmen werden in den USA nach Countys (Landkreisen) ausgezählt und gemeldet und nicht bloß auf Ebene der Bundesstaaten. Jede Manipulation bei der Stimmenauszählung hätte daher in den einzelnen Countys erfolgen müssen. Und weil die Wahl 2020 stark der von 2016 ähnelte, müssten merkwürdige Abweichungen beim Wahlverhalten auf County-Ebene leicht erkennbar sein.

Der Grenz-Effekt

Eine Analyse der Ergebnisse der einzelnen Countys durch mich und drei Kollegen verglich die fünf Swing States (Georgia, Arizona, Wisconsin, Pennsylvania und Michigan) mit fünf Staaten, in denen das Wahlergebnis feststand: Kalifornien, New York, New Jersey, Ohio und Texas. Ein paar Merkwürdigkeiten sind uns dabei aufgefallen. Entlang der mexikanischen Grenze in Texas etwa gab es einen starken Wählerwechsel hin zu Trump, der eindeutig durch den Wohlstand bedingt war, den die Bundesausgaben an der Grenze geschaffen hatten. Doch sind diese wenigen Countys extrem klein.

Anderswo in Texas zeigten zwei große Countys starke Wechselbewegungen hin zu Biden, und dasselbe galt für zwei große Countys in Georgia. Diese Ergebnisse lassen sich auf die Mobilisierung der Wählerinnen und Wähler und den demografischen Wandel zurückführen. Ansonsten zeigt die Analyse, dass die Wählerbewegungen in den Swing States und den nicht umkämpften Staaten in beide Richtungen in den Daten nicht zu unterscheiden waren.

Rückkehr zu Demokraten

Warum siegte Biden? Die simple Antwort ist in den Daten von Wählerbefragungen erkennbar. Trump schnitt im Vergleich zu 2016 bei Frauen, Schwarzen und Hispanics besser ab, aber er verlor bei den weißen Männern an Boden, wo es eine Wählerbewegung in Höhe von fünf Prozentpunkten hin zu Biden gab. Diese Veränderung ging überwiegend von Männern aus, die in 2008 und 2012 für Obama gestimmt hatten, aber sich 2016 für Trump statt für Clinton entschieden. Ihre Rückkehr zu den Demokraten gab in drei eng umkämpften Staaten – Michigan, Pennsylvania und Wisconsin –, die im Jahr 2016 wahlentscheidend gewesen waren, den Ausschlag. Abgesehen davon, dass die Kandidaten hier näher aneinander lagen, gab es in den Swing States nichts Besonderes zu vermerken; die Wählerbewegungen hin zu Biden waren in anderen Staaten, darunter Kalifornien, Texas und New Jersey, etwas größer.

Muster bei Ungleichheit

Es liegt eine große Ironie darin, wie die US-Präsidentschaftswahlen inzwischen ablaufen. Die Staaten, in denen die Einkommensungleichheit seit Anfang der 1990er Jahre am stärksten zugenommen hat – Kalifornien, New York, Connecticut, New Jersey und Massachusetts –, wählen unweigerlich die Demokraten. Und die Staaten, wo die Ungleichheit weniger stark zugenommen hat, wählen überwiegend (aber nicht komplett) die Republikaner. Dieses Muster ist seit Jahrzehnten klar erkennbar, und es verstärkt sich mit jeder Präsidentschaftswahl.

Wie ist das zu erklären? Nicht durch die Einstellungen gegenüber der Ungleichheit – die meisten Menschen kennen den Grad der Ungleichheit in ihrem Heimatstaat (den wir im Rahmen unserer Studie berechnet haben) nicht – oder er ist ihnen egal. Vielmehr liegt es daran, dass die Partei der Demokraten sich zu einer Koalition zweier wichtiger Gruppen entwickelt hat, die die äußeren Enden der Verteilungskurve repräsentieren: den städtischen Fachkräften mit hohem Einkommen und den einkommensschwachen Minderheiten. Die Hochburgen der Republikaner liegen im städtischen Umland, in Kleinstädten und auf dem Land in der Mitte der Einkommensskala. Die Republikaner dominieren daher dort, wo die Ungleichheit niedriger ist, und die Demokraten dort, wo sie höher ist. Dies ist ein simples, einheitliches und überzeugendes Muster.

Angst und Schrecken

Die Auswirkungen dieses Musters entfalten sich inzwischen im gesamten Süden und Südwesten, wo die Minderheitsbevölkerungen – insbesondere die der Hispanics – rapide wachsen und wo die Großstädte allmählich eine beherrschende Stellung gegenüber den kleineren Städten und dem Land übernehmen. Das ist der Grund, warum Arizona und Georgia 2020 auf Biden umschwenkten und warum Nevada vor ein paar Jahren an die Demokraten fiel.

In Texas mit seinen 38 Stimmen im Electoral College – mehr als Pennsylvania und Michigan zusammen – gewannen die Demokraten zuletzt alle vier Jahre drei Prozentpunkte hinzu: Obama erzielte dort 2012 40 Prozent, Clinton 2016 43 Prozent und Biden 2020 46 Prozent.

Die republikanischen Gesetzgeber insbesondere in den Staaten im Süden und Südwesten haben das nachgerechnet und sind dabei in Angst und Schrecken geraten. Das ist der Grund, warum sie sich bemühen, die großen Experimente beim Wahlzugang des Jahres 2020 umzukehren. Das unausgesprochene Motto der Republikaner ist: Wieder dafür sorgen, dass die US-amerikanischen Wählerinnen und Wähler lange für die Wahl anstehen müssen! Ihr Ziel ist es, möglichst viele komplett vom Wählen abzuhalten.

Wählerrechte schützen

Falls der Kongress es jetzt versäumt, die Rechte der Wähler zu schützen, könnte diese Strategie eine Weile funktionieren, insbesondere bei den diesjährigen Zwischenwahlen mit ihrer geringeren Wahlbeteiligung. Und die Demokraten könnten 2024 aus anderen Gründen scheitern. Doch sind die Republikaner durch Wählerunterdrückung nicht zu retten. Wählen ist eine Gewohnheit, und Gewohnheiten lassen sich nur schwer durchbrechen. Die kommende Entwicklung ist klar. (James K. Galbraith, Übersetzung: Jan Doolan, Copyright: Project Syndicate, 16.1.2022)