Irgendwann kommt jeder und jede einmal an einen Punkt, an dem man Hilfe braucht. Weil man etwas alleine einfach nicht schafft. Wieso auch immer.

An diesem Punkt tun die meisten zwei Dinge, die das Problem mit ziemlicher Sicherheit nicht lösen: Entweder rennen sie immer wieder mit dem Kopf an der gleichen Stelle gegen die Wand – und wundern sich, dass das außer Schädelweh recht wenig bringt. Oder aber sie geben auf, finden sich mit einer Situation ab und erklären laut (aber in Wirklichkeit sich selbst), dass das, was nicht geht, die Mühe eh nicht lohnt.

Aber dann gibt es eben noch Plan C: Hilfe suchen – und annehmen.

Foto: Tom Rottenberg

Bei mir war es diesen Sonntag so weit. In den vergangenen Wochen hatte ich mich nicht und nicht dazu durchringen können, diese elend langen, aber halt doch wirklich wichtigen "langen Läufe" im Trainingsplan tatsächlich in voller Länge zu laufen. Nicht die Beine, nicht die Kraft, nicht die Ausdauer, sondern der Kopf spielte einfach nicht mit: Wo zweieinhalb Stunden angesagt gewesen waren, war nach eineindreiviertel der Ofen aus. Ende. Schluss. So eindeutig, dass ich die Uhr danach stellen konnte: 90 Minuten? Null Problem. Aber beim ersten möglichen Exit-Point – etwa einer U-Bahn-Station in Sichtweite – nach Minute 100: Finito.

Was da hilft? Hilfe. Hilfe von anderen. Etwa durch das Laufen mit einer Gruppe.

Foto: Markus Groß

In Wien gibt es da mittlerweile einiges an Auswahl. Von Vereinen über Firmen und Hersteller bis zu Laufschuhläden. Die meisten Angebote sind kostenlos und niederschwellig: Wer auf Social Media stöbert oder ein vorbeifliegendes Rudel auf der PHA oder sonst wo anredet, wird ziemlich sicher ziemlich rasch Anschluss finden – und bei der Suche nach Menschen, mit denen er oder sie am Sonntag einen Longrun hinlegen kann, vermutlich bald über den Weekly Long Run (WLR) stolpern.

Foto: Tom Rottenberg

Schlicht und einfach, weil es den seit etlichen Jahren gibt und er mit bis zu 80 in unterschiedlichen Tempogruppen laufenden Teilnehmerinnen und Teilnehmern vermutlich (ich weiß nicht, wie viele Leute aktuell etwa bei den Adidas-Runners regelmäßig dabei sind) Wiens größter für alle offener Lauftreff ist: Bei den Frauenlauftrainings rennen zwar Hunderte, aber dort gilt ja "women only".

Außerdem geht es bei Ilse Dippmanns Vorbereitungsläufen für den österreichischen Frauenlauf eher um Intervalle und Technik als um Longruns, also das entspannte (und dadurch alleine oft zähe) Kilometer- und Laufstundensammeln in der Umgebung des Grundlagenbereichs.

Was der Weekly Long Run aber mit den Frauenlauftrainings gemein hat: Es handelt sich auch beim WLR längst um eine Wiener (Lauf-)Institution.

Foto: Tom Rottenberg

Dass dieser Weekly Long Run aus dem Umfeld eines Laufschuhshops stammt, ist kein Geheimnis: 2017 luden Michael Wernbacher und Werner Lichtenwörther, die Betreiber des We-Move-Ladens in der Landstraßer Mall, zum ersten Mal zum Sonntagslauf. Man traf sich frühmorgens im Shop, deponierte Wechselgewand ebendort, rannte in mehreren Gruppen durch Wien – und traf sich danach zum Umziehen, Chillen, und um einen Gratisriegel zu essen, wieder hier. Verkauft wurde nicht. Grundsätzlich.

Aber: No na ist das super PR.

In den ersten Monaten war ich immer wieder als Pacer und Guide mit dabei.

Doch als sich die Idee durchsetzte, die Strecken und Routen vorab zu planen und als GPX-Files bereitzustellen, stieg ich aus: Für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer ist das ohne Zweifel ein Megaservice. Mir war es zu aufwendig.

Foto: Tom Rottenberg

An der Grundidee des WLR hat sich seit 2017 nichts geändert. Freilich: Nach einem ersten Hoch schrumpfte er, grundelte Anfang 2018 kaum wahrnehmbar dahin, wurde dann aber vom Wiener Rechtsanwalt Stefan Langer wieder zum Leben erweckt – und zur Institution. Bis zum ersten Lockdown. Die Corona-Gruppen- und Abstandsregeln machten Treffen und gemeinsames Losrennen schwer bis unmöglich. Außerdem sind die Fußwege von Wien Mitte in die Trail-Reviere im Wienerwald etwas lang. Deshalb gibt es heute auch andere Startorte als den Shop.

Was ihnen gemein ist: Sie sind immer öffentlich hochrangig erreichbar, liegen aber so, dass man rasch im "Gelände" ist.

In Wien geht das an tausend Ecken und Enden der Stadt so gut, dass sogar echte Wiener immer wieder staunen: Diesen Sonntag war ich, nach Jahren, das erste Mal wieder bei einem WLR dabei. Treffpunkt war die S-Bahn-Station Strebersdorf – es sollte auf den Bisamberg gehen.

Foto: Tom Rottenberg

Was allen Wiener Hausbergen gemein ist, ist, dass sie unterschätzt werden. Kein Wunder: Hoch sind sie ja wirklich nicht. Nur ist das beim Mountainbiken und Laufen ziemlich wurscht. Man muss gar nicht U4–U4 (also von Hütteldorf nach Heiligenstadt) rennen, um Demut vor den Wienerwaldhängen zu lernen: Von der Steinhofkirche zur Jubiläumswarte und aufs Hameau reicht völlig.

Doch den Bisamberg nimmt dann wirklich niemand als Berg auch nur eine Sekunde ernst: Sein "Gipfel" (allein dieses Wort!) liegt 358 Meter über dem Meeresspiegel. Aber die Gemeinde Bisamberg an seinen Ausläufern liegt auf 192 Metern, der Bezirk Floridsdorf, in dem der Bisamberg ja auch liegt, 170 Meter über dem Meer.

Bisamberg? Bisamhügel – wenn überhaupt!

Foto: Tom Rottenberg

Ich gestehe: Ich dachte und höhnte genauso. Für diesen "Schupfer" extra nach Transdanubien reisen? Sicher nicht! Ein paar Sonntagsausflüge in Kindheitstagen, diverse Heurigenbesuche hatten daran nichts geändert – also staunte ich nicht schlecht, als ich die Bisamkuppe im Sommer irgendwann nebenbei mitnehmen wollte, weil ich den Marchfeldkanal auf dem Rad abfahren wollte: Das Bergerl kann was! Die Wege dort sind teils nicht nur steil, sondern auch verwirrend.

Richtig "lustig" wurde es, als sich meine Teamkollegen im Herbst dann bei "Wien Rundumadum" in der Nacht dort "oben" hoffnungslos verkofferten – und etliche Extrakilometer liefen: Als wir uns Sonntagvormittag dem "Mount Bahndamm" (so wird oder wurde der Hupfer angeblich in Bundesheerkreisen genannt) annäherten, tat ich das ohne Arroganz und Überheblichkeit.

Foto: Tom Rottenberg

Das war gut so. Denn die Route, die wir laufen wollten, zeigte uns die Bisamkuppe als Bisamgebirge: Wer hier 23 oder 24 Kilometer rennen will, muss nämlich einige Runden drehen – und hat dann recht bald 800 Höhenmeter auf dem Tacho.

Das ist nicht nix. Vor allem, weil es da ein paar Trailpassagen gibt, bei denen es fast schon "alpin", im Sinne von blockig-steinig, zugeht.

Wenn man dabei alle paar Meter auf Klosterneuburg oder Wien oder einfach runter Richtung Donau im winterlichen Morgendunst schaut, fühlt sich das Bergfeeling zwar ein bisserl skurril oder zumindest seltsam an – aber Beine haben keine Augen: Für die ist das, was sie gerade "lesen", Berglaufen. Echtes, richtiges und durchaus anstrengendes Berglaufen.

Foto: Tom Rottenberg

Aber eben auch Berglaufen, das mit Belohnungen nicht geizt. Klar gibt es hier keine Blicke auf dramatische Alpenpanoramen – aber (auch wenn das auf den Fotos vom Dunst und dem Streu-Gegenlicht der Vormittagssonne verschluckt wird) der Blick auf die Wiener Skyline und die Stadt kann aus dieser Richtung viel.

Und landschaftlich und vegetativ sind die Wälder und Wiesen des Bisambergs nicht nur richtig schön, sondern – glaubt man diversen Infoseiten – auch ziemlich einzigartig. Angeblich nicht nur im Weinviertel-, sondern auch im internationalen Vergleich.

Foto: Tom Rottenberg

Klar: Für die Details der Flora hat man beim Vorbeirennen eher keinen Blick. Schon gar nicht, wenn es ständig steil rauf oder runter geht. Auf Wurzeln, Äste und Steine achtet man da schon aus einem ganz anderen, durchaus egoistischen Grund: Stolpern ist beim Laufen an sich schon eher unleiwand – im Gelände aber umso mehr.

Beim Traillaufen sind Fokus und Konzentration deshalb wichtiger als auf der Straße – und auch Lauftechniktraining macht sich hier bezahlt. Schließlich müssen Fuß und Sprunggelenk viel mehr und vor allem sich ständig ändernde Reize und Signale verarbeiten.

Foto: Tom Rottenberg

Was auf dem Trail deshalb ganz grundsätzlich wichtig ist, half uns aber auch, ohne ständig extra darauf zu achten, zumindest halbwegs Corona-Regel-konform unterwegs zu sein: Um im Wald dem Vordermann oder der Vorderfrau nicht in die Hacken zu steigen, um die Bodenbeschaffenheit rechtzeitig lesen zu können und einem oder einer eventuell doch Stürzenden noch ausweichen zu können, hält man da tunlichst Abstand. Mindestens zwei Meter, lautet die Faustregel. Und auf breiteren Wegen läuft man derzeit eben versetzt: So schwer ist das nicht.

Dass beim WLR auch die 2G-Regel gilt (und auch kontrolliert wird), erwähne ich nur der Vollständigkeit halber.

Foto: Tom Rottenberg

Eine "Nebenwirkung" von Corona ist aber auch, dass der Nutzungsdruck auf den öffentlichen Grünraum spürbar zugenommen hat. Weil in den ersten Lockdowns so gut wie alle Freizeiteinrichtungen gesperrt waren, entdeckten viele Städterinnen und Städter den Spielplatz namens "Outdoor" wieder. Und viele erkannten, dass der auch ohne Lockdown fein ist.

Da ich früher nie am Bisamberg unterwegs war, kann ich nur meine Privatempirie aus anderen Revieren nach hierher übertragen – aber so anders als anderswo dürfte es nicht sein. Fakt ist, dass ich früher im Wienerwald stundenlang laufen konnte, ohne wirklich viele Menschen zu treffen – und das jetzt schon lange nicht mehr so ist.

Am Bisamberg war das diesen Sonntag nicht anders. Eh super. Meistens.

Foto: Tom Rottenberg

Aber eben nicht immer. Auch wenn sich von dem guten Dutzend Moutainbikern, dem wir begegneten, genau ein einziger wie eine Wildsau benahm, während alle anderen superrücksichtsvoll unterwegs waren, bleibt dann genau der in Erinnerung.

Das Gleiche gilt für Hundehalter: Egal ob am Strick oder nicht, hatten hier alle (und es waren viele) ihre Tiere perfekt unter Kontrolle und im Griff – wieder: mit genau einer Ausnahme.

Ich fürchte mich nicht vor Hunden. Im Gegenteil. Sehe ich, dass das Tier unsicher oder nervös ist, gehe ich. Wenn mich trotzdem 20 Kilo Hund an einer (natürlich schlappen, also nutzlosen) Schleppleine neugierig anspringen, ist das nicht der Fehler des Hundes, sondern ein Versagen des Halters.

Vor allem aber lädt es zum Pauschalieren ein: "die" Mountainbiker, "die" Hundehalter – obwohl 95 Prozent der Begegnungen problemlos, freundlich und amikal verlaufen.

Foto: Tom Rottenberg

Das Gleiche gilt natürlich auch für "die" Läufer (und natürlich die Läuferinnen): "Die" gibt es nicht. Weil jede und jeder anders tickt. Anders läuft. Anders genießt. Oder anderes sucht und braucht.

Und auch findet.

Das galt auch für diesen Lauf kreuz und quer auf und über den Bisamberg: Normalerweise laufe ich die langen, langsamen am liebsten allein. Kontemplativ-meditativ. Nur mit mir und meinen Gedanken.

Aber manchmal steht man eben an. Kommt nicht weiter.

Dann kann man mit dem Kopf gegen die Wand hämmern.

Oder aufgeben.

Oder aber man sucht Hilfe – und nimmt sie auch an.

Meistens funktioniert das: In der Gruppe bemerkte ich die 100-Minuten-Mauer nicht einmal. (Tom Rottenberg, 17.1.2022)

Foto: Christine Esslbauer

Die im Rahmen des Weekly Long Run gelaufene Route war die FKT-Strecke über den Bisamberg.

Die Teilnahme am WLR ist offen und kostenlos. Es handelt sich dabei nicht um gecoachtes Training, sondern lediglich um gemeinsames Laufen in unterschiedlichen Tempogruppen und auf eigene Verantwortung. 2G-Nachweise und die Bereitschaft, sich zu registrieren, werden vorausgesetzt.

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Tom Rottenberg tritt im Jänner 2022 den Job eines Presseprechers bei den niederösterreichischen Grünen an. Da seine Kolumne keine politischen – und schon gar keine parteipolitischen – Botschaften oder Inhalte transportiert, wird seine Laufkolumne "Rotte rennt" weiter auf derStandard.at erscheinen.

Foto: Tom Rottenberg

Nächste Woche in "Rotte rennt": Der eilige Pater Der Duisburger Pater Tobias ist in den letzten 15 Jahren rund 140 Marathons gelaufen, läuft mit Flüchtlingen, sammelt Spenden – und redet unterwegs mit Gott. Und der versteht angeblich, dass man während des Laufens auch mal flucht."

Foto: ©Projekt LebensWert/Carsten Walden