Eine Mitteilung an Anne Franks Vater Otto Frank lieferte Hinweise darauf, wer die Adresse des Verstecks den deutschen Besatzern mitgeteilt hatte.
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Kaum jemandem ist die Geschichte unbekannt: Während die Niederlande in den 1940er-Jahren von Deutschland besetzt waren, versteckten sich die junge Anne Frank, ihre Familie und weitere Mitbewohner in einem Amsterdamer Hinterhaus. Das Tagebuch der Anne Frank zählt zu den eindrücklichsten Dokumenten aus der Zeit des Nationalsozialismus.

Im Sommer 1944 wurden die Familien – wie durch Recherchen des Shoah-Überlebenden Simon Wiesenthal bekannt wurde – von dem aus Wien stammenden SS-Oberscharführer Karl Silberbauer verhaftet (der Prozess gegen ihn wurde eingestellt, da er "nur" Befehle ausgeführt hatte). Ungeklärt war aber die Frage, wer das Versteck verraten haben könnte. Nun gibt es ein neues Indiz, wie unter anderem die niederländische Tageszeitung "De Volkskrant" berichtet.

Sonderstellung und Selbstschutz

Demnach ging ein internationales Untersuchungsteam der Spur eines Zettels nach, der im Jahr 1946 anonym Annes Vater Otto Frank erreicht hatte. Ein niederländischer Polizist hatte eine Kopie des Zettels zu Hause aufbewahrt, die von seinem Sohn wiederentdeckt wurde. Bevor sich das Team an die fünfjährige Recherche machte, war dieses Schriftstück nicht genauer analysiert worden. In ihm fällt jedoch bereits der Name eines jüdischen Notars, Arnold van den Bergh, der offenbar in den Fall verwickelt war.

Van den Bergh gehörte zum sogenannten Judenrat der Stadt, der von den NS-Behörden zwangsweise eingerichtet wurde und Kooperationsaufgaben übernehmen musste. Durch diese Sonderstellung waren van den Bergh und seine Familie zunächst vor Deportationen geschützt. Als 1944 zunehmend auch die Mitglieder des Judenrats verfolgt wurden, war der Notar mit wichtigen Kontakten zu den deutschen Besatzern selbst gefährdet und wurde von einem Notar-Konkurrenten zunehmend diffamiert.

Dadurch dürfte van den Bergh in Panik geraten sein und versucht haben, sein eigenes Leben und das seiner Frau und der drei Töchter zu schützen, indem er versteckte jüdische Familien verriet, wie die Untersuchung ergab. Was im letzten Kriegsjahr mit dem Notar und seiner Frau geschah, ist unklar: Im Gegensatz zu anderen Mitgliedern des Judenrates wurden sie offiziell nicht deportiert. Die drei Töchter konnten untertauchen, wie eine Enkelin aufklärte. Der Notar verstarb im Jahr 1950.

Weitergegebene Adressen

Das maschinengeschriebene Schriftstück, das der pensionierte FBI-Ermittler Vince Pankoke 2019 in alten polizeilichen Akten aufstöberte, besagt: "Ihr Versteck in Amsterdam wurde damals der Jüdischen Auswanderung [der für die Organisation von Deportationen zuständigen Behörde, Anm.] in Amsterdam, Euterpestraat, von A. van den Bergh angekündigt, der damals in der Nähe des Vondelparks, O. Nassaulaan, lebte. Bei der J. A. gab es eine ganze Liste von Adressen, die er weitergab." Diese Kopie wurde von Otto Frank in den 1950er-Jahren erstellt, er stellte selbst eine Zeitlang Recherchen über den Notar an.

Nach ihrer Verhaftung wurden die versteckten Familien Frank und van Pels in Konzentrationslager deportiert. Anne Frank und ihre Schwester Margot kamen ins KZ Auschwitz und später nach Bergen-Belsen, wo die beiden im Februar oder März 1945, wenige Wochen vor der Befreiung des Lagers, ermordet wurden. Ihr Vater Otto war der Einzige aus der Gruppe, der überlebte und ab 1947 für die Veröffentlichung des Tagebuchs seiner Tochter sorgte.

Verschiedene Theorien

Amtliche Dokumente zur Hausdurchsuchung und Verhaftung am 4. August 1944 existieren nicht, was die Recherchen erschwerte. Zusätzlich zu den acht Versteckten wurden zwei Helfer festgenommen. An der Ausführung beteiligt waren neben Karl Silberbauer auch die Niederländer Gezinus Gringhuis und Willem Grootendorst.

Es gab bisher verschiedene Theorien, die sich mit einem möglichen Verrat befassten. So wurden widersprüchliche und nicht verfolgbare Angaben darüber zusammengetragen, ob jemand telefonisch einen entsprechenden Hinweis geliefert hatte. Auch ein Lagerarbeiter der Firma, in der die Versteckten untergetaucht waren, galt als möglicher Verräter, der auch im Tagebuch Erwähnung findet. Ihm konnte später aber keine Schuld nachgewiesen werden.

Nun scheint der Notar van den Bergh der wahrscheinlichste Verantwortliche zu sein. Veröffentlicht wurden die Erkenntnisse im Buch "Der Verrat an Anne Frank. Eine Ermittlung" der kanadischen Schriftstellerin Rosemary Sullivan, die Idee dazu lieferte der niederländische Filmemacher Thijs Bayens.

Moderne Methoden

Dem Expertenteam gelang es unter anderem dank eines Programms, das mit künstlicher Intelligenz arbeitet, Millionen von Details aus Archiven, Akten, Bild- und Tondokumenten miteinander zu verbinden und auszuwerten. Dass der Fall zuvor bereits 1948 und 1963 polizeilich analysiert worden war, dies aber nicht sonderlich gründlich vonstattengegangen war, verwunderte Pieter van Twisk, Forschungsleiter des Cold-Case-Teams: "Man hatte einen Tunnelblick, der nur auf einen Lagermitarbeiter gerichtet war, aber es gab keine überzeugenden Beweise gegen ihn."

Das Team erstellte dreißig mögliche Verratsszenarien, die nach und nach entkräftet wurden, bis ein besonders wahrscheinlicher Hergang übrig blieb, in dessen Zentrum Arnold van den Bergh steht. Der ehemalige FBI-Ermittler Pankoke gibt die Wahrscheinlichkeit für diese Theorie sogar mit "mehr als 85 Prozent" an: Es sei "das einzige Szenario, in dem der Verräter Motiv, Wissen und Gelegenheit hatte – die drei Säulen jeder strafrechtlichen Untersuchung." Eine absolute Gewissheit gebe es 77 Jahre nach Kriegsende allerdings nicht.

Schwieriges Vermächtnis

Rätselhaft bleibt auch, warum Otto Frank van den Bergh nachrecherchierte, seine Beteiligung aber letztendlich nicht öffentlich machte – und womöglich sogar vor Simon Wiesenthal verborgen hatte. Dem Team zufolge gebe es dafür mehrere Motive: Er wollte womöglich die Nachfahren des Mannes vor etwaigen Konsequenzen schützen, die in der Verantwortung ihres Vaters oder Großvaters lagen. "Der Notar war kein schlechter Mensch, er stand vor einem schrecklichen Dilemma, und Otto Frank muss das erkannt haben", sagt van Twisk. "Wie hätten wir gehandelt? Es ist eine Frage, die sich alle Teammitglieder oft gestellt haben. Wir leben in Freiheit, wir können überhaupt kein moralisches Urteil darüber fällen."

Nun, da diese Information öffentlich wird, ist auch die Sorge bezüglich antisemitischer Reaktionen groß. Immerhin waren es keine Nationalsozialisten oder nichtjüdische Kollaborateure, die den Verrat begangen haben sollen, sondern ein Mitglied des Judenrats selbst, das sich und seine Angehörigen verzweifelt schützen wollte. Über die Veröffentlichung dieser Information wurde auch mit hochrangigen Mitgliedern jüdischer Gemeinden diskutiert, bevor man sich zur Publikation entschloss.

Wer den Verräter verraten und das Original der Nachricht an Otto Frank verfasst hat, bleibt unklar. Daher rät der Direktor der Anne-Frank-Stiftung, Ronald Leopold, zu einer vorsichtigen Einschätzung. "Man muss sehr aufpassen, bevor man jemanden in der Geschichte als Verräter von Anne Frank festschreibt, wenn man nicht zu hundert oder zweihundert Prozent sicher ist", sagte er dem Radiosender NPO1. Der US-amerikanische Ermittler Pankoke ist der Ansicht, dass für den Tod der Versteckten die Nationalsozialisten verantwortlich seien, nicht der Notar, der ihnen ihre Adresse gab. (Julia Sica, 17.1.2022)