"Wer kann es sich richten? Wer setzt sich durch? Das regt viele auf", sagt Rudolf Müllner.

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Akademisches Gerede. So umschreibt der Historiker und Sportwissenschafter Rudolf Müllner die These, dass männliche Heldenfiguren bereits entsorgt wurden. Dass die Wirklichkeit anders aussieht, zeigt die Aufregung über Geschichten, wie sie zuletzt der ungeimpfte Novak Djokovic oder Vincent Kriechmayr lieferten, der mit Sondergenehmigung ohne das obligatorische Training in Wengen zum Abfahrtssieg fuhr. Beim Umgang mit Corona-Regeln sei "die Trickserei ein gängiges Motiv", siehe auch Après-Ski-Partys in Kitzbühel.

STANDARD: Selten hat ein Sportler, der gar nicht sportelte, tagelang so viel Interesse hervorgerufen wie Novak Djokovic. Wie sieht der Sporthistoriker diese Aufregung?

Müllner: Man könnte sagen, es ist eine aufgeblasene Geschichte um einen spätpubertierenden Tennisspieler und seine Marotten. Aber die Geschichte ist natürlich viel mehr, und vor allem ist sie nicht ohne das dazugehörige Publikum zu denken. Wir sind es, die hinblicken. Die Frage ist, warum wir das tun.

STANDARD: Warum tun wir das?

Müllner: Da kommt schnell das sogenannte "Heroische" und dessen Funktion in der Gesellschaft ins Spiel. Dass wir längst im postheroischen Zeitalter leben und männliche Heldenfiguren bereits entsorgt wurden, ist akademisches Gerede. Es scheint im Gegenteil so zu sein, dass der öffentliche Raum derzeit nahezu inflationär mit heroisierten Figuren bevölkert ist. Das gilt für den politischen, den kulturellen wie auch für den sozialen Raum des Sports. Überall tummeln sich Celebritys und irgendwie verhaltensoriginelle Persönlichkeiten. Es scheint eine große Sehnsucht der "Follower" zu geben, sich an jemandem auszurichten.

STANDARD: Und da richten wir uns an Djokovic aus?

Müllner: Oder aktuell an Vincent Kriechmayr, der plötzlich auch über den Sport hinaus interessiert und polarisiert, weil er in Wengen nach einer Corona-Infektion nur mit Sondergenehmigung der Fis und ohne Trainingslauf die Abfahrt gewann. Da lebt die gute alte Österreich-Schweiz-Rivalität wieder auf. Helden, auch Sporthelden, entfalten sich im gesellschaftlichen Raum. Sie bilden eine Symbiose mit ihrem Publikum, mit ihren Bewunderern und Fans, aber auch mit ihren Gegnern und Feinden.

STANDARD: Der Erfolg, seien es neun Australian-Open-Titel oder sei es ein Abfahrtssieg in Wengen, reicht da nicht aus?

Müllner: Die Fähigkeit, etwas Außergewöhnliches zu vollbringen, das Normale, das Alltägliche physisch oder sonst wie zu überwinden, ist jedenfalls ein wichtiger Baustein des Sportheldentums. Djokovic und auch Kriechmayr tun das, was Sporthelden tun müssen. Sie übererfüllen durch individuelle Anstrengung, Belastbarkeit, Fleiß und Talent das, was einem "normalen" Menschen unmöglich ist. Sie sind, wie seinerzeit auch Thomas Muster, eine Art Stachanow des modernen Sports. Und dafür werden sie bewundert.

STANDARD: Aber erfolgreich und bewundernswert sind viele.

Müllner: Vor allem Djokovic ist gleichzeitig ein Antiheld, der paradigmatisch vorzeigt, wie man sich nicht an Normen, Regeln oder im wahrsten Sinn des Wortes an Grenzen hält. Damit spaltet er uns Normalos, die wir seine Geschichte verfolgen, in Fans und in Gegner. Wie stark dieser Fanatismus in Teilen Serbiens offenbar sein muss, kann man anhand der skurrilen Pressekonferenzen seiner Familie erahnen. Dass wir in Österreich mit dieser Art von Sportfanatismus auch unsere historischen Erfahrungen haben, zeigt – bei aller Unterschiedlichkeit – das Beispiel Karl Schranz anlässlich seiner Disqualifikation von den Olympischen Spielen im Februar 1972.

STANDARD: Schranz hat ja diesem Ausschluss zu verdanken, dass er nicht bloß als sehr erfolgreicher Skirennläufer, sondern als Volksheld in den Geschichtsbüchern steht.

Müllner: Schranz wurde vor allem wegen seiner "Opferrolle" zum Helden. Der deutsche Soziologe Ulrich Bröckling verwendet den Begriff "Trotzheld". Der Trotzheld ist ein Outlaw, der stellvertretend für viele den herrschenden Mächten die Stirn bietet, bis zum Untergang, wenn es sein muss. Der Trotzheld ist ein Populist, der die Hüter des Status quo herausfordert, deren Verwundbarkeit demonstriert und damit Macht ausübt. Hier vereinen sich das sportliche und das politische Feld, hier begegnen sich Djokovic und Kickl.

STANDARD: Passt da auch dazu, dass der ÖSV für Kriechmayr eine Starterlaubnis erwirkte, obwohl dieser nach den Corona-Regeln der Fis eigentlich nicht startberechtigt war?

Müllner: Wenn es um den Umgang mit Corona-Regeln geht, ist die Trickserei ein durchgängiges Motiv. Viele versuchen diese Regeln hinzubiegen, man denke an gewisse Bürgermeister am Anfang der Impferei oder aktuell an Bilder von Après-Ski-Partys, die verboten sind. Konsequenzen gibt es ja anscheinend keine, und im schlimmsten Fall entschuldigt man sich halt.

STANDARD: Frei nach Pippi Langstrumpf: Viele machen sich die Welt, widdewidde wie sie ihnen gefällt. Aber von Djokovic einmal ganz abgesehen, gibt da nicht auch der ÖSV, der sich die Regeln hinbiegen lässt, ein schlechtes Vorbild ab?

Müllner: In den Narrativen um Djokovic und Kriechmayr werden wesentliche Themen des sozialen Zusammenseins virulent. Es geht um die basalen Themen Gerechtigkeit und Privilegien. Wer kann es sich richten, oder gibt es eine öffentliche Instanz, die für Ordnung und Gerechtigkeit zu sorgen in der Lage ist? Wer setzt sich dabei letztlich durch? Das regt viele auf, und die Geschichte birgt, so wie der sportliche Wettkampf, große Spannung in sich. Hier fallen zentrale Elemente des Sports zusammen – wie Spannung, die Lust am offenen Ausgang, die Unterhaltungsfunktion mit dem Voyeurismus, der in den sogenannten sozialen Medien so hervorragend bedient wird.

STANDARD: Medien ganz generell leben von dieser Aufregung und tragen deshalb nicht selten dazu bei.

Müllner: Das juridische Match zwischen Djokovic und den australischen Behörden konnte man sich wie ein Grand-Slam-Finale auf seinem Handy anschauen – quasi erste Reihe fußfrei. Insofern war der Fall Djokovic für die Aufmerksamkeitsbranche ein Glücksfall. Er lieferte Spannung und hielt sie über Tage hinweg aufrecht. Die Empörung des Schweizer Skiverbandspräsidenten in der Causa Kriechmayr hat einen viel kleineren, aber doch ähnlichen Effekt. Solche Geschichten vermehren das Gold der Sportunterhaltungsindustrie, nämlich Klicks, Likes, Posts und Einschaltziffern. (Fritz Neumann, 18.1.2022)