In ihrem Gastblog blicken die Wissenschafter Francesco Toncich und Hubert Bergmann auf das Leben des Historikers zurück.

Pietro Kandler kam am 23. Mai 1804 in Triest als Sohn eines Zeichenlehrers und Bühnenbildners sowie einer Arzttochter zur Welt. Die Familie des Vaters stammte ursprünglich aus Schottland und trug den Namen Chandler. Vorfahren ließen sich in Wien nieder, später verschlug es sie wiederum in die Hafenstadt an der Adria.

Faszination Rechtsgeschichte

Kandler war begabt und wurde auf das Gymnasium in Capodistria (slowenisch: Koper) geschickt. Seine akademische Laufbahn setzte er in Padua fort, wo er Jus studierte. Noch als Student erhielt er 1822 ein Stipendium für einen mehrjährigen Studienaufenthalt in Wien. Die dort gemachten Erfahrungen sollten Kandler grundlegend prägen. An der Wiener juridischen Fakultät belegte er Vorlesungen bei Thomas Dolliner und Franz von Egger und entdeckte seine Passion für die Erforschung der historischen Rechtsinstitute. So suchte er nach historisch-juridischen Dokumenten und vergessenen Texten über das Österreichische Küstenland. Zugleich führte ihn seine Wander- und Reiselust in die nördlichen und östlichen Länder des Kaiserreichs. 1826 schloss er sein Jusstudium an der Universität Pavia mit einem Doktortitel ab und kehrte in seine Heimatstadt zurück.

Pietro Kandler, Lithografie von Adolf Dauthage.
Foto: Bildarchiv Austria

Archäologiepionier und kulturwissenschaftlicher Netzwerker

Im Vormärz trat Kandler in die Anwaltskanzlei Domenico Rossettis ein, damals eine der zentralen Gestalten des gesellschaftlich-kulturellen Lebens der Stadt Triest. Diese erlebte gerade ihre Blütezeit und entwickelte sich zu einem kosmopolitischen Handelszentrum ersten Ranges. Nicht zuletzt über Vermittlung Rossettis brachte sich Kandler immer mehr in das Kulturleben der Stadt ein, etwa als Mitglied der 1810 gegründeten Società di Minerva und als Mitarbeiter an deren seit 1829 erscheinenden Zeitschrift "Archeografo Triestino".

Kandler begann nun, sich das Umland Triests und die Halbinsel Istrien zu "erwandern". Als Folge seiner Entdeckungsreisen zu Fuß sowie – in übertragenem Sinne – durch die Bestände diverser Archive initiierte er erste archäologische Ausgrabungen. Besonderes Interesse weckten in ihm dabei Pola (kroatisch: Pula) mit seiner imposanten antiken Arena, Aquileia mit seinen Relikten aus der Römerzeit und der frühchristlichen Basilika sowie die Castellieri, vorrömische Befestigungsanlagen um Triest sowie im Inneren Istriens. Durch diese Aktivitäten kam Kandler in Kontakt zu Vertretern der lokalen Intelligenzija, mit denen er ein enges Forschungs- und Informationsnetzwerk knüpfte. Ein Ergebnis dieses Networkings war 1846 die Gründung des Wochenblatts "L’Istria", das bis 1852 erschien.

Kandler trug dadurch entscheidend dazu bei, die noch junge archäologische und historische Forschung zum triestinisch-istrischen Raum zu institutionalisieren. Nicht umsonst wurde "L’Istria" als erster und wichtigster "kultureller Speicher" des Küstenlandes bezeichnet. Die darin veröffentlichten Studien wurden zur unverzichtbaren Grundlage für alle sich später mit dem triestinisch-istrischen Raum befassenden Gelehrten. Kandlers Ruf als Archäologe und Epigrafiker drang bald bis nach Wien sowie in weitere europäische Metropolen vor: 1844 stattete Kaiser Ferdinand I. Pola einen Besuch ab und stellte die dortigen archäologischen Stätten unter allerhöchsten Schutz, während Theodor Mommsen den Triestiner Gelehrten als Korrespondenten für sein "Corpus Inscriptionum Latinarum" gewann. 1853 ernannte die "Central-Commission für Erforschung und Erhaltung der Baudenkmale" in Wien Kandler zum "Conservator für die Baudenkmale des Küstenlandes". Im August desselben Jahres wurde Kandler schließlich in die kaiserliche Akademie der Wissenschaften in Wien aufgenommen.

Die Arena von Pola, Aquarell von Carlo Zamara.
Foto: Bildarchiv Austria

Antikes Erbe als Identitätsstifter und Tourismusmagnet

Im Zuge seiner archäologischen und historischen Studien reifte in Kandler die Idee, die Ergebnisse seiner Forschungen einem breiteren Publikum zu präsentieren. Eine solche museale Sammlung sollte seiner Auffassung nach nicht zuletzt identitätsstiftend wirken. Die Stadtgemeinde vertraute Kandler die Leitung eines Projekts für die Gründung eines Museums für "Altertümer" an, das dem 1768 in Triest ermordeten Ahnherrn des Klassizismus, Johann Winckelmann, gewidmet sein sollte. 1843 konnte Kandler so das Freilichtmuseum "Orto lapidario" der Öffentlichkeit übergeben, in unmittelbarer Nähe der Kathedrale San Giusto. Dieses Lapidarium, eine Sammlung von Skulpturen, Grabsteinen, Sarkophagen et cetera, war die Initialzündung für das jedoch erst ein Jahr nach Kandlers Tod gegründete Museo dʼAntichità, das an die erwähnte Gartenanlage anschließt und bis heute als Museo d’Antichità J. J. Winckelmann besteht.

Kandlers Konzeption des Gartens sah vor, steinerne Zeugen der Geschichte des Küstenlandes systematisch zu präsentieren. Dabei richtete sich sein Blick jedoch nicht ausschließlich auf die Vergangenheit, sondern auch auf Gegenwart und Zukunft. Triest und seine Bewohner verfügten nur bedingt über damals als solide gewertete "kulturelle Traditionen". Kandlers Museum sollte darauf abzielen, den Triestinern die Idee einer Zugehörigkeit zu einer (wenn auch imaginierten) historischen Gemeinschaft und damit eine Identität zu verschaffen – mittels ihres kulturellen Erbes. Durch das Studium der eigenen Vergangenheit sollte zudem eine verstärkte Identifikation mit dem neu geschaffenen Kronland Österreichisches Küstenland erfolgen.

Kandler verfasste zudem Reiseführer über Triest, Aquileia, Grado und die wichtigsten Städte Istriens, die in mehreren Sprachen publiziert wurden. Diese Aktivitäten standen nicht zuletzt in Zusammenhang mit dem im Entstehen begriffenen Fremdenverkehr, um dessen Förderung sich das Triestiner Bürgertum bemühte.

Gedenktafel an Kandlers Geburtshaus in der Via San Nicolò in Triest.
Foto: J. Widdowson

Schwierige Gratwanderung: Kandler und die Politik

Schon 1842 wurde der gemäßigt liberale und kaisertreue Kandler zum Prokurator der Stadt Triest und zum Präsidenten des Gemeinderats gewählt. Im Jahr zuvor war der erst 35-jährige Franz Graf von Stadion-Warthausen als Gouverneur des Küstenlandes nach Triest gekommen und Kandler avancierte bald zu dessen engstem Mitarbeiter. Er unterstützte ihn bei seiner Verwaltungsreform, wobei ihm sein rechtshistorisches Wissen von großem Nutzen war: Er stellte die überlieferten Rechtstexte neu zusammen und edierte sie, sodass Stadion-Warthausen sie als Grundlage für seine Reformen verwenden konnte. Der so entstandene fünfbändige "Codice diplomatico istriano" (1847) kann als Kandlers Hauptwerk gelten.

Im Revolutionsjahr 1848 erwies sich Kandler als kaisertreu, obschon er eine gewisse Autonomie der Stadt Triest befürwortete. Dagegen nahm er seine Wahl ins Frankfurter Parlament nicht an, da er eine Eingliederung der ehemals venezianischen Teile Istriens in den Deutschen Bund ablehnte. Im Laufe des folgenden Jahrzehnts nahm er immer konservativere Standpunkte ein und geriet so in Konflikt mit den erstarkenden liberalnationalen italienischen Parteien. Kandlers Verbundenheit mit dem Haus Habsburg zeigt sich nicht zuletzt in der Tatsache, dass er auch in die Errichtung von Schloss Miramare involviert war. So lieferte er das Bildprogramm für die von Cesare Dell’Acqua geschaffenen Gemälde und zeichnete für die lateinischen Inschriften verantwortlich.

Büste Kandlers im Giardino Pubblico Muzio de Tommasini in Triest.
Foto: J. Widdowson

Bis 1865 vertrat Kandler das großteils von Slowenischsprachigen bewohnte Karstumland im Triestiner Gemeinderat, ehe an seiner Stelle Ivan Nabergoj als erster Slowene ins Stadtparlament gewählt wurde. Kandler reagierte empört, wobei antislawische Töne nicht ausblieben. Insbesondere nach 1867 verschärften sich seine Auseinandersetzungen mit dem nunmehr immer stärker italienisch-nationaliberal gesinnten Bürgertum. Politisch zunehmend isoliert und an einer Krebserkrankung leidend, zog sich Kandler ins Privatleben zurück, ehe er am 18. Jänner 1872 in seiner Wohnung an der Via del Lazzaretto Vecchio verstarb.

Vergessener innovativer Kopf

Die italienische Historiografie hat Kandler meist als klassischen Typus des braven, angepassten, kaisertreuen, italienischsprachigen und der Monarchie loyalen Untertanen dargestellt. Seine ablehnende Haltung gegenüber den italienfreundlichen Kreisen Triests, die die Eingliederung der Stadt in das Königreich Italien anstrebten, wurde ihm negativ ausgelegt. Kandler geriet so allmählich in Vergessenheit. Dabei wurde vielfach übersehen, dass er auf unterschiedliche Weise ein innovativer Kopf war, der die Grundlagen für die Regionalgeschichtsschreibung des nördlichsten Adriaraums und dessen touristische "Verwertung" legte. Und dabei kulturelle sowie historische Bezüge und Verbindungen noch ohne nationale Scheuklappen dachte. (Francesco Toncich, Hubert Bergmann, 20.1.2022)