Franz Grillparzer (1791–1872) war entgegen anderslautenden Gerüchten alles andere als ein Beschwichtigungshofrat.

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Die einen warfen ihm seine Zögerlichkeit vor. Dabei übte Franz Grillparzer politisch bloß noble Zurückhaltung (noch an Hegels Philosophie geißelte Grillparzer den nationalistischen "Eigendünkel"). So schrieb der Dramatiker allen Großdeutschen folgendes Epigramm ins Merk- und Liederheft: "Ein Vorzug bleibt uns immer unverloren, / Man preist ihn heut als Nationalität. / Es sagt: dass irgendwo der Mensch geboren, / Was freilich sich von selbst versteht."

Andere glaubten, Grillparzer wegen einiger angeblich schlechter Verse als "Zweitklassiker" schmähen zum müssen. Dabei braucht man bloß Grillparzers posthum veröffentlichte "Selbstbiographie" (1853) aus dem Regal zu ziehen. Wer angesichts der Modernität dieses Textes, der Thomas Bernhard alle Ehre gemacht hätte, nicht in schallendes Gelächter ausbricht, der missdeutet Grillparzers Anarchie gründlich und hält sie für Duckmäusertum.

Nicht nur die Schilderung des Todes seiner Mutter gehört zu den makabren Gipfelleistungen der Biedermeier-Literatur. Grillparzers Prosainszenierung seines Besuches bei Geheimrat Goethe in Weimar sucht ihresgleichen in der Bekenntnisliteratur: als sorgfältig inszeniertes Wechselspiel aus Demut und Hoffart, aus Kleinreden und symbolischem Vatermordversuch.

Kaum blickt er dem hohen Manne unverwandt ins Antlitz, fängt der Gast aus Wien elendiglich zu flennen an. Einen eigens für ihn anberaumten Abendtermin lässt er sausen: aus Furcht, mit Popanz Goethe "allein seyn" zu müssen. Die österreichische Krankheit – die depressive Verstimmung dessen, der es besser wüsste – findet in Franz Grillparzer ihren besten Abnehmer: indem er ihr bester Patient ist, und zugleich ihr heilkundiger Arzt. (Ronald Pohl, 20.1.2022)