Stephanie Krisper von den Neos beschäftigt sich seit Jahren mit untergetauchten unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen und mahnt nun bei deren Betreuung Verbesserungen ein.

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Mitten in Österreich verschwinden Jahr für Jahr hunderte Kinder und Jugendliche, die unbegleitet hierhergeflüchtet sind. Im Jahr 2020 waren es insgesamt 764, eine enorme Steigerung zum Jahr davor, in dem es von Jänner bis Oktober 471 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (UMF) waren, die verschwanden. Für 2021 wird es voraussichtlich im März Daten geben. Die Zahlen dürften allerdings weiter steigen.

38 Prozent der Antragsteller verschwunden

Insgesamt stellten zwischen Jänner 2016 und Oktober dieses Jahres 11.731 UMF einen Asylantrag, zum Verfahren zugelassen wurden dann aber nur 4.091 von ihnen, 1511 wurden für volljährig erklärt. Laut Berechnungen von Lisa Wolfsegger, Expertin für Kinderflüchtlinge bei der Asylkoordination, sind in diesem Zeitraum 4.416 Kinder im Zulassungsverfahren verschwunden, das entspricht 38 Prozent aller Anträge. 2021 dürfte der Prozentsatz noch einmal steigen.

Bei der Frage nach dem Warum bringt Stephanie Krisper, bei den Neos Sprecherin für Inneres und Asyl, den Betreuungsschlüssel ins Spiel. Zwar heißt es in einer Anfragebeantwortung aus dem Innenministerium an Krisper, dass dieser bei 1:15 liege – der gesetzlich vorgeschriebene Wert. Berechnungen der Asylkoordination zeigen allerdings, dass dies nicht stimmen dürfte.

Wie viele Betreuer auf einen Geflüchteten kommen

Der Durchschnitt liegt demnach bei 1:32, ein Betreuer bzw. eine Betreuerin wäre also für doppelt so viele Kinder und Jugendliche verantwortlich, wie das Ministerium in der Anfrage angibt. Am schlechtesten ist das Verhältnis laut den Daten mit 1:42 in Korneuburg, in Traiskirchen liegt der Schlüssel bei 1:34, auch in Reichenau, Finkenstein und Semmering ist eine Person für mehr als 30 UMF verantwortlich.

"Es werden in Wahrheit viel mehr unbegleitete Minderjährige von einer Person betreut, als der Minister vorgibt. Das ist nicht kindgerecht. Um die Rechte und die Sicherheit der Kinder zu gewährleisten, gehört der Betreuungsschlüssel auf den Stand gebracht, den der Minister nur behauptet", fordert Krisper.

Obsorge nicht geregelt

Kritik gab es zuletzt auch, weil keine adäquaten Unterkünfte für die Kinder und Jugendlichen, die in Österreich um Asyl ansuchen, gefunden werden konnten. Allein über 700 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge waren Ende Dezember in großen Bundesquartieren nicht altersgerecht untergebracht, da die Tagsätze nicht ausreichen, um kleinere, altersgerechte Quartiere für sie in den Bundesländern zu gründen. Zuletzt hieß es zwar, hier zeichne sich eine Einigung ab. Laut Wolfsegger sei aber nach wie vor nichts passiert. Sie fordert die Obsorge durch die Kinder- und Jugendhilfen ab Tag eins, immerhin stehe das auch im Regierungsprogramm.

Erst am Wochenende sei Wolfsegger in Traiskirchen gewesen, viele Jugendliche hätten ihr erzählt, dass es überhaupt keine Betreuung gebe. "Wenn die fehlt, dann fehlt es auch an wichtigen Infos", so Wolfsegger. UMF würden sich etwa wegen Gerüchten, wonach ihr Asylantrag ohnehin keine Chance habe, auf den Weg machen. Andere würden zu in anderen Ländern lebenden Familienmitgliedern wollen. Wenn es sich nicht um die Eltern handelt, gibt es dafür keine legalen Wege. "Auch wenn ein oder zwei im Zuge dessen Opfer von Menschenhandel werden, ist das zu viel."

Innenministerium sieht keine mangelnde Betreuung

Aus dem Innenministerium heißt es auf Anfrage, dass man die Zahlen der Asylkoordination nicht nachvollziehen und deswegen auch nicht kommentieren könne. Wie in der Anfrage beschrieben, komme in den Betreuungseinrichtungen des Bundes "grundsätzlich ein Betreuungsschlüssel von 1:15 zur Anwendung".

Das Verschwinden von Kindern und Jugendlichen im Asylkontext sei weder ein Thema mangelnder Betreuung noch sonstiger anmutender Gründe, sagt Ressortsprecher Harald Sörös außerdem. Es sei vielmehr Thema der Sekundärmigration. Es gebe viele Gründe dafür: "Österreich stellt oftmals lediglich ein Transitland für Minderjährige dar, die in weiterer Folge zu Familienangehörigen weiterreisen. Auch das Bestehen einer Community für einzelne Nationalitäten spielt eine nicht unwesentliche Rolle bei dem angestrebten Zielland. Darüber hinaus lässt die geltende Zuständigkeitsregelung der EU bei unbegleiteten Minderjährigen eine Zuständigkeit des letzten Antragsstaates zu."

"Kein Einfluss auf individuellen Entschluss, unterzutauchen"

Im Jahr 2021 sei bei untergetauchten Minderjährigen in rund zwei Dritteln der Fälle infolge eine Anfrage (gemäß der Dublin-III-Verordnung) eines anderen Mitgliedsstaates an Österreich gestellt worden. "Diese hohe Anzahl einlangender Anfragen bei UMF zeigt eindeutig den Zusammenhang zwischen dem 'Verschwinden' von Kindern und dem Wunsch, aus freiwilligen Stücken in ein anderes europäisches Land weiterzureisen, auf", so Sörös zum STANDARD. Und: "Natürlich kann auf den individuellen Entschluss einer minderjährigen Person, im Laufe des Asylverfahrens unterzutauchen und weiter zu migrieren, seitens des Innenministeriums kein Einfluss genommen werden." (Lara Hagen, 19.1.2022)