In seinem Gastblog kritisiert der Blogger Georg Scherer die Abriss- und Baukultur der Stadt Wien.

Wer sich mit dem Umgang mit historischen Gebäuden in Wien beschäftigt, ist so einiges gewohnt. Über Monate offene Fenster in leeren Häusern, um Gebäude abbruchreif zu bekommen. Abrisse von erhaltenswerten historischen Gebäuden. Extremer Druck auf Bewohner. Doch Abbrucharbeiten an einem bewohnten Haus – das ist ein seltener Tiefpunkt. Genau das hat sich im 3. Bezirk zugetragen.

Die Geschichte des Hauses in der Radetzkystraße 24–26 ist eine Geschichte der Eskalation. Dabei hatte alles so unscheinbar begonnen: Errichtet Mitte des 19. Jahrhunderts, als Wien kurz vor dem Boom der Gründerzeit stand. Mit Schäden durch den Zweiten Weltkrieg gekommen, aber immerhin der markante neugotische Turm hatte sich erhalten. Im Erdgeschoß seit jeher ein Café, das es als uriges Kaffee Urania noch bis 2016 gab. Kein Haus, das es andernfalls zu größerer Bekanntheit geschafft hätte. Eben ein Althaus, wie es Wien ausmacht.

Das 1849 erbaute Haus in der Radetzkystraße 24–26 wird nun anscheinend endgültig abgerissen. Aufgenommen 2022.
Foto: Georg Scherer

Im Fadenkreuz der Immo-Entwickler

Vor einigen Jahren zogen dunkle Wolken auf. Das Haus wurde verkauft. Einige Jahre später noch einmal. Ab 2015 sollen Mieter mehr oder minder unsanft hinausgebeten worden sein. Die Eingangstür wurde lange nicht repariert. So konnten sich Fremde im Haus aufhalten, es kam zu einem Gewaltdelikt, die Polizei musste gerufen werden. Der Druck auf die Bewohner wuchs, das Haus leerte sich. 2017 wurde es zunehmend akuter. Über Monate hinweg blieb das Haus eingerüstet und von einer Plane verdeckt, ohne dass Bauarbeiten zu erkennen waren. Vielleicht ein Mittel, um Bewohner aus dem Haus zu bekommen?

Der historische Turm kurz vor der Demolierung im Jahr 2018.
Foto: Georg Scherer

Einen ungeahnt drastischen Weg schlug der Eigentümer – eine Wiener Immobilienfirma – ein, als die Stadtregierung im Jahr 2018 einen seltenen Schritt hin zu mehr Altbauschutz wagte. Um Jahre zu spät kündigten SPÖ und Grüne eine Reform an: Abriss nur noch dann, wenn ein Haus historisch nicht erhaltenswert ist. Was wie eine Selbstverständlichkeit klingt, war in Wien jahrzehntelang undenkbar. Der dadurch leichtfertig zugelassene Verlust an historischen Gebäuden lässt sich nicht einmal ansatzweise ermessen.

Die längst überfällige Reform hatte einen Haken: die lange Vorlaufzeit. Die bloße Ankündigung reichte, um Investoren in hektische Betriebsamkeit zu versetzen. Allerorts wurde hastig abgerissen – etwa in der Mariahilfer Straße und in der Leopoldstadt. Auch in der Radetzkystraße eskalierte die Situation. Eine eilig angesetzte Demonstration von Bewohnern des Hauses und der Initiative Denkmalschutz konnte nichts dagegen ausrichten.

Das Haus während des Teilabrisses im Juni 2018.
Foto: Georg Scherer

Eine Person, die alles vor Ort miterlebte, berichtet über das Entsetzen während des Abbruchs und die Wut über die tatenlose Politik. Die Bewohner mussten mitansehen, wie die Abbruchfirma das Dach und das oberste Geschoß abtrug und die 170 Jahre alten Ornamente von der Fassade schlug. Die Fenster aller unbelegten Wohnungen wurden herausgerissen. Das Haus bebte unter den Abrissmaschinen. Von einem Machtwort von Wohnbaustadträtin Kathrin Gaál oder Bürgermeister Michael Ludwig war nichts zu hören. Zwar endeten die überhasteten Arbeiten nach wenigen Tagen, als die neuen Gesetzesbestimmungen schlagend wurden. Doch die Erleichterung währte nur kurz.

Das Haus war während der Abrissarbeiten 2018 noch bewohnt.
Foto: Georg Scherer

"Organisierte Altbauvernichtung"

Nun setzte das juristische Tauziehen ein. Die Behörden pochten auf das neue Gesetz. Der Eigentümer besaß zugleich eine Abbruchgenehmigung – eingereicht war ein Gesamtabriss. "Es dauerte bis Herbst 2018, bis die Mieterhilfe mithilfe der Mietervereinigung eine Klage gegen den Eigentümer einreichte, obwohl die Mieter schon seit 2015 betreut wurden", schildert eine Betroffene. Auch syrische Flüchtlinge waren unter den Bewohnern. Durch das fehlende Dach entstanden in der Folgezeit immer wieder massive Wasserschäden. Auch in der Wohnung einer hochbetagten Frau kam Wasser durch die Decke. Der psychische Druck auf die Bewohner war extrem, wie ich vor Ort erfuhr.

Der Fall schaffte es 2018 auch ins Parlament. Unter dem Titel "Organisierte Altbauvernichtung" wandte sich die SPÖ an den damaligen Innenminister Herbert Kickl (FPÖ). In ihrer Anfrage nannte Bautensprecherin Ruth Becher eine Reihe von Liegenschaften, die ganz oder teilweise demselben Eigentümer gehören. In mehreren Fällen ging der Bauträger nach dem Muster Abriss mit anschließendem Neubau vor. Becher fragte, ob Ermittlungen im Sinne einer "kriminellen Vereinigung" laufen. Ergebnisse brachte die Anfrage nicht.

Der historische Turm 2018 und 2022.
Foto: Georg Scherer

Jahrzehntelanges Versagen

Während die SPÖ im Parlament entschieden auf die "Spekulationsvorgänge" (O-Ton) aufmerksam machte, hätten es die rote Wiener Landespartei und ihre Koalitionspartner schon seit Jahrzehnten in der Hand gehabt, Fälle wie jenen in der Radetzkystraße von vornherein zu verunmöglichen. So hätte es gehen können: Ein starkes Baurecht, das Altbauten vor Abrissen schützt; Altstadterhaltung nach dem Vorbild Salzburgs, das sich 1980 ein vorbildliches Gesetz gegeben hat; Planungsstadträte, die für Schutzzonen für alle erhaltenswerten Häuser sorgen; eine Politik, die sich Bauträger auch einmal gezielt und öffentlich vornimmt, wenn Wien Schaden zu erleiden droht; und ausreichende Förderungen für sanierungsbedürftige Häuser. All das ist nicht passiert.

Ein Jahr nach dem Abrissstopp in der Radetzkystraße gab ein Gerichtsurteil den Mietern recht. "Es spricht ihnen Dach und Fenster zu. Das wird vom Wohnbaustadtratsbüro als voller Erfolg für die Mieter verkündet", erklärt eine betroffene Person. Aber "die Stadtverwaltung akzeptiert im Frühjahr 2020 die Verschandelung mit unpassenden Fenstern, Gummischläuchen statt Dachrinnen, einem ewigen Gerüst und Staubnetz". Kurz gesagt: Der Eigentümer erfüllte offenbar bloß das vorgeschriebene Minimum. Im Folgejahr soll es dann zu Räumungsklagen gekommen sein.

Nach einem Gerichtsurteil wurden unpassende neue Fenster eingesetzt. Eine Sanierung erfolgte nicht.
Foto: Georg Scherer

Kein Abrissschutz

Wenn Schutzzonen gelten und wenn nicht extrem viel höher gebaut werden darf, als die Häuser wirklich hoch sind, wird das eher jene Bauträger anziehen, die sanieren anstatt abreißen. Durch Sanierung lässt sich einerseits neuer Wohnraum schaffen, etwa im Dachgeschoß. Andererseits werden die im Haus gespeicherten Ressourcen erhalten. "Jede Sanierung ist selbst dem Bau von Passivhäusern vorzuziehen", schreibt die Vereinigung Architects for Future, die aus dem Umfeld von Fridays for Future kommt.

Eine Schutzzone galt für das Haus in der Radetzkystraße jedenfalls nicht. Dieses kleine Detail im Bebauungsplan hat den verhängnisvollen Lauf wohl erst in Gang gesetzt. "Abrisswidmungen", die Altbauten und Bewohner unter wirtschaftlichen Druck setzen, finden sich vielerorts bis heute. Wollen Politik und Behörden der Immobilienbranche nicht allzu viele Steine in den Weg legen? Sollen die Bestimmungen absichtlich so butterweich bleiben, damit auch die Stadt Wien selbst nach Belieben ihre historischen Bauten wegreißen kann, so geschehen beim AKH und Otto-Wagner-Spital? Oder steckt schlichtes Desinteresse dahinter?

Dabei braucht es nur ein offenes Ohr für die Bürger: Bei fast jeder Änderung des Bebauungsplans ist es die Initiative Denkmalschutz, die sich mit konkreten Verbesserungsvorschlägen an die Politik wendet. Doch selbst dieser für die Stadt völlig kostenlose Rat prallt regelmäßig ungehört ab. Auch für das Haus in der Radetzkystraße hatte die Initiative Denkmalschutz schon 2016 eine Schutzzone vorgeschlagen. Vergeblich.

Strengere Gesetze hätten solche Bilder wahrscheinlich verhindert (2021).
Foto: Georg Scherer

Das Ende eines Gründerzeithauses

2018 wurde der begonnene Abriss gestoppt. 2022 darf das verbliebene Haus wohl endgültig niedergerissen werden. Dazwischen liegen rechtliche Auseinandersetzungen, die sich letztlich so zusammenfassen lassen: Solange Mieter mit aufrechten Mietverträgen im Haus wohnten, durfte nicht weiter abgerissen werden. Ein unbedingter Erhalt des Hauses und eine Wiederherstellung der demolierten Gebäudeteile waren vor dem Verwaltungsgericht nicht durchsetzbar.

Nach 173 Jahren wird das Gründerzeithaus in der Radetzkystraße 24–26 offenbar komplett abgebrochen.
Foto: Georg Scherer

Wien: Baukultur im Keller

Die Causa Radetzkystraße ist mit dem wohl demnächst beginnenden Abriss nicht abgeschlossen. Denn Fälle wie dieser können jederzeit wieder passieren. So existiert Altstadterhaltung in Wien nur auf dem Papier, wenn 2017 sogar mitten in der Kernzone des Unesco-Weltkulturerbes ein Jahrhundertwendehaus einfach abgerissen werden durfte. Private Gutachten machen es möglich – und schon ist fast jedes beliebige Gebäude "abbruchreif". Die nächsten Häuser sind schon angezählt, zum Beispiel nahe der Mariahilfer Straße, in der Landstraße und am Spittelberg. Für eine Stadt, deren Architektur noch im frühen 20. Jahrhundert zu den innovativsten und beeindruckendsten der Welt zählte, sind die vielen Abrisse und die teils erschreckend niedrige Qualität im Neubau schlichtweg erbärmlich. (Georg Scherer, 28.1.2022)