Im Haus der Bayerischen Wirtschaft in München wurden die Worte am Donnerstag sorgfältig abgewogen, sachlich und ruhig vorgetragen. Zwar war das Thema ein schreckliches, die Juristen aber versuchten, nüchtern zu bleiben. Einmal jedoch schaffte es Rechtsanwalt Ulrich Wastl nicht ganz. Er nannte all das, was er und seine Kollegen und Kolleginnen zusammengetragen hatten, "eine Bilanz des Schreckens".

Auf diesem Bild ist Joseph Ratzinger im Jahr 1977 bei seiner ersten Predigt nach der Weihe zum Erzbischof der Erzdiözese München und Freising im Münchner Liebfrauendom zu sehen. Die Vergangenheit holt ihn ein, Gutachter werfen ihm vor, bei Missbrauch weggesehen zu haben.
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Diese erstreckt sich über 1.700 Seiten und ist nun auf der Website der Münchner Rechtsanwaltskanzlei Westpfahl Spilker Wastl nachzulesen. Der Auftrag für die Juristen, erteilt von der Erzdiözese München, lautete, sexuellen Missbrauch "durch Kleriker sowie hauptamtliche Bedienstete im Bereich der Erzdiözese München und Freising von 1945 bis 2019" zu untersuchen.

In dieser Zeit, von 1977 bis 1982, war der spätere Papst Benedikt XVI. als Joseph Ratzinger Erzbischof von München und Freising. Danach wechselte er an die Spitze der Glaubenskongregation im Vatikan, von 2005 bis 2013 war er Papst.

Insgesamt listet die Studie zwischen den Jahren 1945 und 2019 497 Fälle auf. Die Autoren gehen aber davon aus, dass die Dunkelziffer höher ist. 247 Opfer waren männlich, 182 Opfer weiblich, in 68 Fällen war eine Zuordnung nicht möglich. Auch Zahlen über mutmaßliche Täter werden in München genannt: insgesamt 235, darunter 173 Priester und neun Diakone.

Fehlverhalten

Mit Spannung war erwartet worden, wie die Gutachter die Vorfälle in Ratzingers Amtszeit bewerten würden. Ihr Fazit: In vier Fällen müsse man dem emeritierten Papst Fehlverhalten vorwerfen.

Besonders schwer wiegt laut der Studie der Fall des Priesters H., der 1980 von Essen (Nordrhein-Westfalen) nach München versetzt worden war, nachdem er in seiner Heimatdiözese Kinder missbraucht hatte. Doch in München beging er neue Übergriffe und wurde auch strafrechtlich verurteilt. Die Verantwortung für den Einsatz des Priesters trotz seiner Vorgeschichte übernahm seinerzeit allein der damalige Generalvikar Gerhard Gruber. Er hat nun gegenüber den Gutachtern erklärt, dass er dazu gedrängt worden sei, die Verantwortung für diese Entscheidung zu übernehmen.

82 Seiten Einlassung

Ex-Papst Benedikt hat sich in einer 82-seitigen Stellungnahme zu den Vorwürfen eingelassen, sie aber zurückgewiesen. Seiner Ansicht nach sei der Priester auch "nur" ein Exhibitionist gewesen, habe aber niemanden missbraucht – was die Gutachter zurückwiesen.

Benedikt erklärte zudem, im Jahr 1980 bei einer Sitzung, in der es um den pädophilen Priester H. ging, gar nicht dabei gewesen zu sein.

Die Prüfer aber legten ein Protokoll der Ordinariatssitzung vor, in der Aussagen Ratzingers festgehalten wurden. "Wir halten die Angaben des Papstes Benedikt für wenig glaubwürdig", sagte Gutachter Wastl. Sein Kollege Martin Pusch betonte, bei Ratzinger sei ein Interesse an den Missbrauchsopfern "nicht erkennbar" gewesen.

Ein "Lügengebäude"

Generell seien Betroffene nicht wahrgenommen worden, so Pusch. Und wenn, " dann nicht wegen ihres Leids, sondern weil man sie als Bedrohung für das Erzbistum ansah".

Zufrieden mit der Arbeit der Juristen zeigte sich Matthias Katsch von der Initiative Eckiger Tisch: "Ich bin ehrlich gesagt tief bewegt, zwölf Jahre sind wir jetzt dran, und wir haben gerade erlebt, wie das Lügengebäude um Benedikt herum, um die Weltkirche krachend zusammengefallen ist."

Gerne hätten die Rechtsanwälte bei der Pressekonferenz den amtierenden Erzbischof von München, Kardinal Reinhard Marx, dabeigehabt. Dieser jedoch hatte die Einladung ausgeschlagen. Auch ihm wird Wegschauen und Vertuschen in zwei Fällen zur Last gelegt. Marx erklärte in einer ersten Reaktion: "Ich bin erschüttert und betroffen."

Er bat "im Namen der Erzdiözese um Entschuldigung, dass Menschen im Raum der Kirche Leid zugefügt worden ist, dass die Täter oft nicht zur Rechenschaft gezogen wurden". Das Gutachten nannte er einen "wichtigen und unverzichtbaren Baustein" der Aufklärung. (Birgit Baumann aus Berlin, 20.1.2022)