Das Denkmal für die Helden des Ghettoaufstands lag nur hundert Meter vom Studentenheim entfernt, in dem der Autor Martin Pollack ab 1965 wohnte.

Foto: AFP / Janek Skarzynski

Als ich im Herbst 1965 nach Warschau fuhr, um als beginnender Student der Polonistik meine Sprachkenntnisse zu verbessern, war der erste Auschwitzprozess in Frankfurt am Main gerade zu Ende gegangen. In Österreich hatte der Prozess, soweit mir erinnerlich, kein besonderes Interesse erregt. Damit haben wir nichts zu tun, das ist Sache der Deutschen. Diese Einschätzung war in unserem Land auch noch viel später weitverbreitet.

Das Studentenheim, in dem ich wohnte, befand sich in der ul. Zamenhof, benannt nach dem polnisch-jüdischen Augenarzt Ludwik Zamenhof, der als Erfinder der Kunstsprache Esperanto internationale Bekanntheit erlangte. Die Zamenhofa befindet sich auf dem Gebiet des ehemaligen Ghettos, von wo Hunderttausende in Vernichtungslager deportiert wurden.

Das Ehrenmal für die Helden des Ghettoaufstands im Frühjahr 1943, vor dem Willy Brandt im Dezember 1970 niederknien sollte, stand keine hundert Meter von unserem Heim entfernt. Im Spätherbst 1965 machte ich mich mit einem amerikanischen Kollegen jüdischer Herkunft auf, um das in der Nähe von Krakau gelegene KZ Auschwitz-Birkenau zu besuchen.

Ich erinnere mich, dass ich wie erschlagen vor den Bergen von Koffern, Schuhen, Brillen und Haaren der jüdischen Opfer stand, wusste ich doch, dass mein leiblicher Vater bei der Verfolgung der Juden aktiv mitgewirkt hatte (Martin Pollack schrieb darüber sein Buch "Der Tote im Bunker", Anm.).

Offizielle Geschichtsversion

Während wir durchs Lager gingen, sprach mein amerikanischer Freund von der schändlichen Rolle, die viele Polen in der Zeit der Vernichtung der Juden gespielt hätten. Das war für mich neu, und es fiel mir nicht leicht, es zu glauben. Die offizielle Geschichtsversion der Kommunisten lautete, dass Polen immer nur Opfer und Helden waren, nie jedoch Täter.

Dieser Opfer- und Heldenmythos wird auch heute wieder von der rechtsnationalen Regierung und ihren Verbündeten zur Doktrin erhoben und gegen kritische Stimmen wütend verteidigt.

Nach der Rückkehr begann ich mich gründlicher mit der Shoah zu beschäftigen. Ich machte bald die Bekanntschaft jüdischer Intellektueller, die im Jüdischen Historischen Institut (ŻIH) und im letzten verbliebenen jüdischen Verlag Idysz Buch ("Jiddisches Buch") tätig waren. Das ŻIH existiert heute noch, während Idysz Buch im Jahr 1968, im Verlauf der von den kommunistischen Behörden entfesselten antisemitischen Kampagne, geschlossen wurde.

Viel Parteipropaganda

Meine Bekannten wiesen mich auf die wichtigsten Arbeiten zur Shoah hin, warnten mich jedoch hinter vorgehaltener Hand davor, von der Partei lancierte Werke über die Okkupationszeit, vor allem jene, die sich mit der Tragödie der Juden beschäftigten, unkritisch zu rezipieren.

Da stecke viel Parteipropaganda drin, mit der Absicht, die jüdischen Opfer und mit ihnen die gesamte Shoah zu marginalisieren und aus dem kollektiven Gedächtnis zu verdrängen. Anfangs hielt ich das für eine Übertreibung, doch die antisemitische Welle 1968, die tausende überlebende Juden zur Emigration zwang, öffnete mir die Augen.

Einer der jüdischen Intellektuellen, mit dem ich in Kontakt kam, war Szymon Datner, ein herausragender Historiker des Holocaust und des jüdischen Widerstands, damals Direktor des ŻIH. Als ich einmal im Gespräch mit ihm auf die unglaubliche Fülle der Literatur über den Holocaust hinwies, lächelte Professor Datner nur mild. Die Forschung sei erst am Anfang, unser Wissen über die Vernichtung der Juden sei völlig unzureichend, die grundlegenden Werke seien noch nicht geschrieben worden, nicht zuletzt wegen der Zensur, die Historiker auf Schritt und Tritt kontrolliere und ihre Arbeit behindere.

Zensur und Kontrolle

Trotzdem konnten auch im kommunistischen Polen zahlreiche hervorragende Arbeiten über die Shoah publiziert werden, allerdings oft in spezialisierten Kleinverlagen und winzigen Auflagen, die sofort vergriffen waren. Viele wichtige Titel erschienen erst nach der Wende, die das Ende der Zensur und der Kontrolle durch die Partei mit sich brachte.

Dazu gehören die 2019 im Jüdischen Verlag bei Suhrkamp erstmals vollständig auf Deutsch publizierten Aufzeichnungen eines Mitglieds des Sonderkommandos des KZ Auschwitz-Birkenau namens Salmen Gradowski, geschrieben sozusagen "aus dem Inneren der Hölle" heraus. Ein erschütterndes Zeugnis, das einen schaurigen Einblick in die kalt geplanten Mechanismen des Mordens gewährt.

Seine jiddischen Aufzeichnungen führt Gradowski Tag für Tag, streng geheim, und versteckt sie in provisorischen Behältnissen, die er vergräbt, in der Hoffnung, dass sie nach dem Krieg gefunden werden, denn er möchte Zeugnis ablegen von dem, was in Auschwitz geschehen ist.

Das erinnert an Emanuel Ringelblum, der 1940 im Warschauer Ghetto mit mutigen Mitarbeitern ein geheimes Archiv gegründet hatte, genannt Oneg Shabbat, das in den Ruinen des Ghettos versteckt und nach dem Krieg zumindest teilweise gefunden wurde. Auch von Gradowski wurde nicht alles gefunden, einiges ist sicher verlorengegangen.

Kaum erträgliche Genauigkeit

Die im sogenannten Sonderkommando zusammengefassten Häftlinge, von einem französischen Forscher treffend als "Zwangsarbeiter des Todes" bezeichnet, hatten die Aufgabe, die zur Ermordung bestimmten Juden auf ihrem letzten Weg zu begleiten, vom Auskleideraum bis zur Gaskammer. Anschließend mussten sie die Leichen aus der Gaskammer holen und nach allem absuchen, was den Tätern brauchbar erschien. In Körperöffnungen versteckte Wertsachen, Goldzähne, die Haare der Frauen, aber auch Brillen und Prothesen ...

Der Autor beschreibt mit kaum erträglicher Genauigkeit die einzelnen Etappen, die die Opfer durchlaufen mussten. Alles war präzis geplant, nichts wurde dem Zufall überlassen. Manchmal sangen die jüdischen Häftlinge auf dem Weg in die Gaskammer, eine Form des Widerstands gegen die von den Tätern angestrebte Entmenschlichung, die "Zertrennung", wie Gradowski den Vorgang des Tötens nennt.

Verteidigung gegen die Entmenschlichung

"Dort unten wurden sie zertrennt, zerrissen und zerpflückt, aber hier oben, zu den Wolken, schweben sie jetzt zusammen. Es haben sich wieder vereinigt Mann, Frau und Kind", schreibt er angesichts der aus den Krematorien schlagenden Rauchschwaden. Der Ton, den er für die Schilderung der unfassbaren Ereignisse wählt, wirkt verstörend. Ist es statthaft, in diesem lyrischen Ton über die unfassbaren Ereignisse zu berichten?

Der Satz von Theodor W. Adorno, wonach es barbarisch sei, nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, kommt in den Sinn. Muss das nicht noch mehr für die Ereignisse in Auschwitz selber gelten?

Der polnisch-jüdische Autor Stanisław Wygodzki, ein Überlebender von Auschwitz, der in der Shoah seine gesamte Familie verloren hat, bezeichnet in einem Text über die Aufzeichnungen Gradowskis dessen literarische Ansprüche als eine Art von Asyl, eine Verteidigung gegen die Entmenschlichung und Verdinglichung der Opfer. Wygodzki emigrierte 1968 infolge der antisemitischen Kampagne nach Israel, worauf er in Polen zur Unperson erklärt und totgeschwiegen wurde.

Rabiater Antisemitismus

Salmen Gradowski wurde zwischen 1908 und 1910 in der damals zum Zarenreich gehörenden ostpolnischen Kleinstadt Suwałki, nahe der Grenze zu Litauen, geboren. Er entstammte einer religiösen Familie und verspürte schon in jungen Jahren einen Drang zur Literatur. Im Dezember 1942 transportierten die Deutschen Gradowski mit seiner Frau, seiner Mutter, zwei Schwestern und den Schwiegereltern ins Vernichtungslager Auschwitz, wo alle Familienmitglieder außer ihm sofort ins Gas geschickt wurden.

Er wurde dem Sonderkommando zugeteilt und blieb dort bis zum 7. Oktober 1944. Das Datum ist wichtig, denn an diesem Tag erhoben sich die Mitglieder des Sonderkommandos zum Aufstand gegen die Mörder, der von schwer bewaffneter SS brutal niedergeschlagen wurde.

Gradowski war einer der Anführer des Aufstands und kam, wie die meisten Leidensgenossen, bei dem ungleichen Kampf ums Leben. Ein jüdischer Häftling namens Yaakov Freimark gab später zu Protokoll, er habe am 8. Oktober die Leiche des erhängten Gradowski gesehen, mit Spuren grausamer Folter und zerschmettertem Schädel.

Neben den Schilderungen der Vorgänge in Auschwitz finden sich bei Gradowski auch Hinweise über das schmerzliche Verhältnis zwischen Juden und Polen, das auch noch während der Vernichtung der Juden durch die Nationalsozialisten von einem rabiaten Antisemitismus überschattet wurde.

Verschlossene Türen

Der Antisemitismus hatte schon in der Zwischenkriegszeit mit unglaublicher Brutalität gewütet und ließ auch während des Krieges kaum nach. Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass die Judenverfolgung einen wichtigen Bestandteil der Okkupationspolitik der Nationalsozialisten darstellte. Es gab in Polen faktisch keine Kollaboration mit Hitlerdeutschland, doch die Vernichtung der Juden wurde von vielen, wahrscheinlich den meisten, offen begrüßt.

An einer Stelle spricht Gradowski vom geplagten Leben der Juden unter dem polnischen Volk, "in dessen Mehrheit wir große zoologische Antisemiten sahen und fühlten", und er berichtet von der Weigerung der meisten Polen, den jüdischen Nachbarn zur Hilfe zu kommen. "Große Mengen von Juden haben versucht, einen Ort zu finden, wo sie von der dörflichen oder städtischen Bevölkerung aufgesaugt würden, aber haben überall das große verweigernde ‚Nein!‘ zur Antwort bekommen. Überall fanden sie vor sich eine verschlossene Tür."

Gedenken vor dem Denkmal in Warschau: Welche Rolle hat damals die polnische Gesellschaft gespielt?
Foto: Imago / Xinhua / Jaap Arriens

Hier berührt Gradowski eine Thematik, die heute aktueller erscheint denn je. Es handelt sich um die Frage, ob Polen mehrheitlich den verfolgten Juden in der Stunde der größten Gefahr geholfen, ob sie gleichgültig zugeschaut oder ob sie den Tätern aktiv geholfen bzw. sogar aus eigenem Antrieb, oft ohne Zutun der Deutschen, Juden gejagt und ermordet haben.

Offizielle Geschichtspolitik

Die offizielle, von der rechtsnationalen Partei PiS zur Doktrin erklärte Version lautet, Polen hätten, wo es nur möglich war, ihren jüdischen Nachbarn geholfen und sie ohne Rücksicht auf ihre eigene Sicherheit versteckt. (Auf jede Unterstützung von Juden stand die Todesstrafe, was oft für ganze Familien galt.) Diese Erzählung von den todesmutig helfenden Polen ist zum unverrückbaren Bestandteil der offiziellen Geschichtspolitik geworden.

Die wenigen Polen, die sich an den Judenverfolgungen beteiligten, Juden erpressten, an die Deutschen auslieferten und sich an jüdischem Vermögen bereicherten, so die offizielle Lesart, gehörten einer marginalen Schicht krimineller Elemente an, die vom polnischen Untergrund zur Rechenschaft gezogen wurden.

Diese Version wird von polnischen Politikern, Diplomaten und regimetreuen Kulturschaffenden im In- und Ausland mit zunehmender Vehemenz vertreten, in der Absicht, den guten Namen Polens gegen die vermeintlichen zahlreichen Feinde zu schützen, vor allem gegen die Deutschen, die angeblich dabei sind, ein Viertes Reich zu errichten, um Europa zu beherrschen und Polen erneut zu demütigen und klein zu halten.

In einem ganz anderen Licht

In den letzten Jahren sind zahlreiche Werke kritischer Historiker, keineswegs nur jüdischer Herkunft, erschienen, die die Beziehungen zwischen Polen und Juden während der Okkupationszeit und auch noch nach 1945 in einem ganz anderen Licht darstellen als die offizielle Geschichtspolitik. Man spricht inzwischen von einer Neuen Polnischen Schule des Holocaust.

In diesen kritischen Werken werden penibel die vielen Fälle dokumentiert, in denen Polen sich aktiv an der Judenjagd (so der bezeichnende Titel eines Werks des renommierten Holocaust-Forschers Jan Grabowski) beteiligten, entweder indirekt, indem sie versteckte Juden an die Deutschen verrieten und sie damit dem sicheren Tod auslieferten, oder direkt, indem sie Juden auf der Flucht eigenhändig ermordeten bzw. sich aktiv an "Säuberungsaktionen" beteiligten und sich dabei die Hände blutig machten.

Nach einer vorsichtigen Schätzung von Jan Grabowski kamen auf diese Weise mindestens 200.000 Juden bis zum Kriegsende durch die Hand ihrer polnischen Nachbarn ums Leben. Und die Verfolgungen gingen auch nach dem Krieg weiter. Jüdische Überlebende wurden bedroht und in vielen Fällen ermordet. Einen traurigen Höhepunkt der antijüdischen Gewalt nach 1945 stellte der durch ein Ritualmordgerücht (!) ausgelöste Pogrom von Kielce im Juli 1946 dar, bei dem 42 Juden den Tod fanden.

Angekratzter Mythos

Solche Schandtaten, ob während oder kurz nach dem Krieg, kratzen naturgemäß am Mythos von Polen als edle Widerstands- und Opfernation, die keine Schuld auf sich geladen hat. Natürlich ist unbestritten, dass die Nationalsozialisten die Verantwortung für die Millionen ermordeten Juden tragen, doch zahlreiche Historiker und Publizisten sehen die Zeit gekommen, auch zu hinterfragen, welche Rolle die polnische Gesellschaft, vor allem aber die polnische katholische Kirche dabei gespielt haben.

Das erscheint umso dringender, als gerade heute wieder ein offiziell geduldeter, in vielen Fällen offen geschürter Antisemitismus um sich greift, der inzwischen ein Ausmaß angenommen hat, das an die unseligen Zwischenkriegsjahre gemahnt.

In dieses düstere Bild passt ein antisemitischer Skandal, der im November vorigen Jahres die Stadt Kalisz erschütterte. Ein patriotischer Aufmarsch anlässlich der Unabhängigkeitsfeiern am 11. November mündete in eine antisemitische Demonstration, geführt von bekannten Rechtsextremen. Als die Organisatoren "Tod den Feinden des Vaterlandes" intonierten, antwortete die Menge im Chor: "Śmierć żydom!", "Tod den Juden!".

Die anwesende Polizei und Vertreter der städtischen Behörden sahen keinen Anlass, die Demonstration deswegen aufzulösen. Erst Tage später und nach internationalen Protesten bequemten sich die Behörden, auch der Sejm (Parlament) und das Episkopat, die Ausschreitungen zu verurteilen. Einige Rädelsführer wurden nach Tagen verhaftet.

"Tod den Juden!", diese Losung hatte Salmen Gradowski in den Jahren zwischen den Kriegen oft bei antijüdischen Demonstrationen und Ausschreitungen zu hören bekommen. Dass solche Rufe heute wieder bei offiziellen Kundgebungen ertönen, ohne dass die Behörden unverzüglich einschreiten, ist zweifellos ein Auswuchs der offiziellen polnischen Geschichtspolitik, die ganz bewusst diese Dämonen weckt, um ihre Oberhoheit über die Deutung der jüngsten Geschichte zu untermauern. (Martin Pollack, ALBUM, 22.1.2022)