Erich Goldschmidt, geboren 1924 in Reinbek bei Hamburg, hat ein jüdisches Bewusstsein nicht gekannt, wie sein um vier Jahre jüngerer Bruder war er getauft, wuchs evangelisch auf, und viel lieber wäre er bei der Hitlerjugend gewesen, er hätte so gerne dazugehört, als Deutscher.

Georges-Arthur Goldschmidt, "Der versperrte Weg. Roman des Bruders". 20,60 Euro / 112 Seiten. Wallstein-Verlag, Göttingen 2021
Cover: Wallstein Verlag

Umso einschneidender die Erfahrung, dass ihn die Herkunft ausschloss. Als die Eltern ihn und den Bruder 1938 fortschicken, fühlt er sich "um seine Zukunft betrogen". Er ist fünfzehn, als er in einem katholischen Internat in den französischen Alpen landet. Da ahnt er bereits, dass er die Eltern nicht mehr wiedersehen würde, dass Deutschland für immer hinter ihm lag.

In der französischen Erziehung verinnerlichte er schließlich alles, was seinem bisherigen Leben widersprach. Er entfernte sich von der deutschen Sprache, die ihm bald "obszön" schien, er schämte sich für seine Herkunft und suchte nach einem Weg, "sich selber zu vergessen", vor allem seine "Judenheit" loszuwerden.

Homme de Lettres

So schreibt es Georges-Arthur Goldschmidt, in dessen autobiografisch grundiertem Erzählwerk der Bruder bisher nur am Rande vorkam, obwohl er der "Hauptschatten" seines Lebens blieb. Ausgrenzung und Verfolgung haben die Brüder nicht wirklich zusammengeschweißt, schon 1943 teilten sich ihre Wege. Erich schließt sich damals der Résistance an, der Waffendienst bestimmt fortan sein Leben. Während aus dem jüngeren Bruder später ein Homme de Lettres wird, bleibt Erich Goldschmidt bis zu seiner Pensionierung beim Militär.

1944 nahm er an der Befreiung von Paris teil und kämpfte anschließend im Elsass. Danach begann er Jus zu studieren, aus Liebe zum Vater, der Richter in Hamburg war. Doch der Lebensweg ging anders weiter. In einer verzweifelten Situation verschrieb sich Erich der Fremdenlegion, stand in Indochina im Einsatz und diente in der französischen Kolonialarmee in Algerien. Über den Rang eines Majors kam er allerdings nie hinaus.

Das war gewiss nicht das, was er sich vorgestellt hatte. Über all die Zeit blieb das Gefühl der Fremdheit, die im Jahr 1938 begonnen hatte und die er nie wirklich loswurde. Aber nicht nur die Erfahrung des Exils, des Ausgestoßenseins zieht sich als roter Faden durchs Leben, auf dem Bruder lastet das Schicksal der jüdischen und deutschen Herkunft.

An sich vorbeileben

"Er gehörte zu zwei tragischen Völkern", und er hatte erfolglos versucht, diesen Widerspruch aufzulösen, indem er sich in den Dienst der französischen Zivilisation stellte, eine fast mythische "Wiedergutmachungsaufgabe": "Es war ihm, als sollte das Französische das Deutsche wiederherstellen, wie es hätte gewesen sein können, wenn die Hitlerei nicht gewesen wäre."

Wohl auch deswegen heißt Goldschmidts erzählender Bericht im Untertitel Roman des Bruders, war doch dessen Versuch, die Zugehörigkeiten zu überbrücken und das Vergangene zu retten, eine Illusion. Oder wie Georges-Arthur über Erich schreibt: Er stand sich selbst im Weg. Und: "Er lebte an sich selber vorbei."

Der Bruder starb im Jahr 2011. Der versperrte Weg, der nun an ihn erinnert, ist vor allem eines: die berührende Geschichte einer Heimatlosigkeit, hinter der die "Grundsehnsucht" des Lebens unerfüllt blieb. (Gerhard Zeillinger, ALBUM, 23.1.2022)