Der STANDARD feiert seine zehntausendste Ausgabe. Aus diesem Anlass beschäftigen wir uns mit der Zahl Zehntausend.

"Entschuldigen Sie bitte, wissen Sie zufällig, wo es hier zur Demo geht?" Wie aus dem Nichts taucht der Mann vor mir auf, Jeans, Daunenjacke, Döblinger Dialekt, Anfang 60 und als Gesamterscheinung deutlich weniger schräg als seine Frage. Denn wer kann ernsthaft hier eine Demo suchen? Heute?

Nächsten Mittwoch feiert Alexander Van der Bellen sein fünfjähriges Dienstjubiläum, es waren wohl die bewegtesten Jahre, die ein Bundespräsident in der Nachkriegszeit erlebt hat.
Foto: Heribert Corn www.corn.at

Es ist Donnerstag, der 20. Jänner, im Nationalrat wird gerade das Impfpflichtgesetz beschlossen, deshalb ziehen seit den Morgenstunden Impfgegner durch die Innenstadt. Man kann sie gut hören, die Trillerpfeifen, die "Widerstand"-Rufe, aber finden wird man sie hier nicht, denn das hier ist der Ballhausplatz, und der ist Sperrzone.

Überall sind Polizisten, und zwar nicht nur Folklore-Einheiten, sondern auch die Wega, manche von ihnen sogar mit einer Maschinenpistole in der Hand. Um hierherzukommen, musste man mindestens eine Straßensperre passieren. Wie hat der Mann das geschafft?

10.000 Sekunden herumstehen

Es ist 11.36 Uhr, ich bin also seit exakt 36 Minuten hier, und der Mann in der Daunenjacke ist die erste Person, mit der ich rede, seit ich um kurz vor elf dem leitenden Beamten an der Polizeisperre erklärte, warum er mich bitte doch zum Ballhausplatz lassen soll.

Kein Witz, ich will wirklich nur 10.000 Sekunden herumstehen und den Platz auf mich wirken lassen, aber das klingt wilder, als es ist, es sind nur zwei Stunden und 47 Minuten. Ja, ich weiß, dass heute sehr wenig los sein wird, weil Bannmeile, genau, das haben wir Schlaumeier blöd organisiert.

Nein wirklich, ich werde mich mit niemandem versammeln, und ja, man könnte auch allein demonstrieren, aber dafür bin ich echt nicht der Typ, ich habe weder Schilder noch Stiegl-Fahnen dabei, außerdem fällt mir nichts ein, was ich dringend fordern könnte, außer einen neuen Stürmer für Vorwärts Steyr und ein bisschen Zeit zum Schauen.

Danke, das ist wirklich nett.

Frischer Wind

Der Ballhausplatz also: das politische Zentrum der Republik. Auf der einen Seite hockt der Bundespräsident, auf der anderen der Kanzler, zwischen den beiden der Innenminister, und das Parlament ist auch nicht weit. Nirgendwo sonst kann man die österreichische Politik so gut erklären wie hier, heißt es, und wenn das stimmt, dann ist die erste Lektion: Vorsicht, der Schein trügt. Obwohl es an diesem Vormittag sonnig ist und laut Wetterbericht sieben Grad hat, ist es arschkalt, weil der Wind vom Heldenplatz ungebremst hereinströmt und aus dem Platz Sibirien macht.

Aber gut, vielleicht braucht man hier auch immer ein bisschen frischen Wind, damit alles in Bewegung bleibt.

Zehn Bundeskanzler saßen seit der STANDARD-Gründung auf Hausnummer 2 (genauer gesagt neun plus eine Kanzlerin, Anm.), und seit dem Amtsantritt von Alexander Van der Bellen am 26. Jänner 2017 (STANDARD-Ausgabe 8501) hat das Karussell Geschwindigkeit aufgenommen.

Gleich fünf Kanzler gab es in seiner Amtszeit, zwei davon im zweiten Halbjahr 2021 – wenn das so weitergeht, wird Van der Bellen in einer zweiten Amtszeit monatlich neue Regierungschefs angeloben, sollte er sich zu einer zweiten Amtszeit entschließen. (Lektion 2: Du hast immer mehr zu tun, als du dir davor gedacht hast.)

Alles ruhig

Dabei ist es heute alles andere als stressig. Ich stehe mittlerweile seit einer Stunde auf dem Ballhausplatz, und es ist sehr ruhig. Hin und wieder kommen Touristen vorbei, denen man schon von weitem anhört, dass sie Touristen und keine Demonstranten sind.

Nur hin und wieder dürfen Autos herein, die meisten davon fahren in den Innenhof der Hofburg, wo die privilegierten Mitarbeiter aus dem Bundeskanzleramt ihre Autos abstellen dürfen, auffällig viele haben Kennzeichen aus St. Pölten-Land. (Lektion 3: Wenn du im BKA Karriere machen willst, dann sei besser Niederösterreicher.) Es gibt ein paar Müllwagen, aber keinen Lkw von Reisswolf, offenbar plant gerade niemand eine Regierungskrise (Lektion 4: Schmeiß alles weg, immer!)

Irgendwann saust der SPÖ-Abgeordnete Philipp Kucher vom Parlament in Richtung SPÖ-Parteizentrale. Schrägerweise benützt er für die paar Meter einen E-Scooter. Ist der Mann nicht Gesundheitssprecher? (Lektion 5: Pass bloß auf, was du hier treibst, es könnte dich immer jemand sehen.)

Aber sonst: Keine Minister, keine Lobbyisten, nur der Ö1-Journalist Stefan Kappacher, der sich ärgert, weil er wegen der Sperrzone mit seinem Informanten keine Runde durch den Volksgarten drehen kann. Apropos: Was ist heute eigentlich mit der Runde des First Dog? Muss der nicht mal für kleine Hunde?

Der Präsident ist schließlich im Haus, die Fahne auf der Hofburg verrät ihn. Ich rufe den Sprecher des Präsidenten an, weil ich hoffe, dem Präsidenten bei der Hunderunde zwei, drei Fragen über sein Leben am Ballhausplatz zu stellen. Leider: Dem Hund ist zu kalt, ob ich mich nicht stattdessen kurz im Maria-Theresien-Saal der Hofburg aufwärmen will?

Die Lehren des Präsidenten

Nächsten Mittwoch feiert Alexander Van der Bellen sein fünfjähriges Dienstjubiläum, und es waren wohl die bewegtesten Jahre, die ein Bundespräsident in der Nachkriegszeit erlebt hat. Jetzt sitzt er an dem Tisch, an dem er bisher 125 Minister und Staatssekretäre angelobt hat, und sagt: "Und unterm Strich wird wohl übrig bleiben, dass niemand mehr daran zweifelt, dass es das Amt des Bundespräsidenten braucht. Es waren Ereignisse dabei, die zum ersten Mal passiert sind, und die Ibiza-Geschichte 2019 war da gar nicht so außergewöhnlich. Ja, es war für Österreich erstmalig, aber dass ein Misstrauensantrag durchgeht, ist in anderen europäischen Ländern öfter der Fall. Tatsächlich europaweit einmalig war, dass mich der Verfassungsgerichtshof beauftragt hat, notfalls mithilfe des Bundesheeres vom Finanzminister bestimmte Informationen einzuholen. Insgesamt muss man sagen, dass es für mich ein Vorteil war, keiner Partei anzugehören, die in diese Vorgänge verwickelt war."

(Lektion 6: Hab zur Sicherheit immer das Bundesverfassungsgesetz bei der Hand.)

Was er sonst so gelernt hat?

"Dass es in dieser Position auch viele Routineaufgaben gibt. Ein Beispiel: Wohl fast jede Lehrerin und jeder Lehrer, der in Österreich seine Karriere bis zur Pensionierung durchhält, wird einmal ausgezeichnet und befördert. Diese Dekrete werden zunächst vom Unterrichtsminister und dann von mir unterzeichnet. Das ist natürlich eine ehrenvolle Aufgabe. Aber pro Tag sind das sicher 30 Minuten." (Lektion 7: Heimische Politik ist manchmal auch ein bisschen fad.)

Und dann:

"Wir sitzen hier in 350 Jahre alten Räumen. Es ist ein sympathischer Wiener Barock. Aber gedacht sind sie als Wohn- und Repräsentationsräume, für ein modernes Büro sind sie absolut ungeeignet. Der Hund und ich fühlen uns zwar wohl, aber man vermisst natürlich, was in jedem modernen Bürogebäude selbstverständlich ist, dass es nämlich einen Raum gibt, in dem man sich automatisch trifft. In dem man Kaffee trinkt und sich austauscht. Das ist in diesen Gemäuern de facto unmöglich." (Lektion 8: In der Spitzenpolitik ist man oft einsam.) "Bestimmte Wiener Traditionen leben einfach immer noch. Als ich vor fünf Jahren mein Büro hinter dieser Tapetentür bezogen habe, war das Erste, was man mir erzählte, dass genau an dieser Stelle Joseph II. 1790 verstorben ist. Meine erste Amtshandlung am Tag danach war, dass ich auf dem Zentralfriedhof bei der Gruftanlage der bisherigen Präsidenten gedachte. Das fand ich sehr wienerisch nach dem Motto: Okay, jetzt bist du da, aber du weißt eh, wo du landest." (Lektion 9: Alles ist irgendwann einmal vorbei.)

Schritte zählen

Ich verabschiede mich und beziehe wieder Position auf dem Ballhausplatz. Man hört die Demonstrationen vor dem Burgtor, und es ist immer noch kalt. Ich zähle die Schritte vom Kanzleramt zur Präsidentschaftskanzlei (Für mich 60, Heinz Faßmann hat es wohl mit 50 geschafft, Herbert Kickl brauchte seinerzeit wohl mindestens 100.)

Ich stoppe die Zeit, wie lang man vom einen bis zum anderen Gebäude braucht, falls man es mal eilig hat, weil bei der Angelobung Demonstranten Krawall schlagen (fünf Sekunden, ich habe aber rutschige Schuhe an, das geht, wenn es sein muss, schneller). Ich zähle die Schutzpoller, deren Errichtung unter Christian Kern einen Boulevardskandal ausgelöst haben (42 vorm Kanzleramt, nur elf vor der Hofburg, warum das denn?).

Ich stelle mich erst vors Kanzleramt und zähle die Fenster, wechsle dann die Straßenseite und mache das Gleiche vor der Hofburg. Ich überlege, warum vor dem Kanzleramt gleich vier Polizisten Wache bezogen haben, vor der Präsidentschaftskanzlei aber nur einer, der deutlich weniger fit wirkt als die Kollegen.

Ich mache das ganz und gar nicht zurückhaltend und wundere mich, warum mich bei den ganzen Übungen keiner fragt, was genau ich da eigentlich mache. Am Ende wird es zwei Stunden und 30 Minuten dauern, bis sich ein Wachpolizist des Kanzleramts erbarmt, die Straßenseite wechselt und mich fragt, was ich da treibe.

"Noch 17 Minuten warten, dann bin ich 10.000 Sekunden hier gestanden, und dann geh ich heim." Der Polizist wirkt so, als hätte er hier schon Ungewöhnlicheres erlebt.

Er nickt, sagt: "Na dann, viel Spaß", und geht wieder zurück auf seinen Posten. (Lektion 10: Du kannst dich auf dem Ballhausplatz aufführen, wie du willst, und es ist jedem egal.)

Wenn du zwischendurch beim Bundespräsidenten warst. (Markus Huber, 22.1.2022)