Die 17-jährige Gayle ist mit ihrem Song "abcdefu" seit zwei Wochen die Nummer eins in Österreich.

Foto: Warner Music

Manche Stars im Pop scheinen wie aus dem Himmel auf die Erde und dort in die Charts zu fallen, wo sie gleich wieder in lichte Höhen steigen. Jüngster Beleg dieser Phänomenologie ist Gayle. Nie gehört?

Gayle ist seit zwei Wochen auf Platz eins der heimischen Charts, und der Weg dorthin hat sich in den Wochen zuvor bereits abgezeichnet. Geschafft hat sie das mit dem Titel abcdefu, der sich irgendwie altersgemäß ausnimmt, denn Gayle ist gerade 17 Jahre alt.

Es ist ein Lied, in dem sie mit einem Typen abrechnet, die Bedeutung des "f" und des "u" im Songtitel kann man sich ungefähr vorstellen, wobei es mit "forget you" dann doch so ausfällt, dass niemand weinen muss. Schließlich legt man sich nicht gleich zu Beginn einer Karriere selbst Steine in den Weg und insistiert auf das F-Wort. Man möchte schließlich im Radio gespielt werden und im Fernsehen auftreten.

Überall in den Charts

Neben Österreich ist Gayle in Deutschland, Finnland, Norwegen Schweden, Irland und England auf Platz eins und in einer Handvoll anderer Länder in den Top Ten. Mit etwas Glück geht sich eine Frühpension mit 20 aus, dann kann sie immer noch was Gescheites lernen.

GAYLE

Ganz aus dem Himmel gefallen ist Gayle natürlich nicht. Die 2004 in Dallas im US-Bundesstaat Texas als Taylor Gayle Rutherford geborene Musikerin erregte mit ihren auf Youtube veröffentlichten Songs die Aufmerksamkeit einer Jurorin der Castingshow American Idol. Drei ausgedrückte Pickel und eine Matheschularbeit später war sie bei Atlantic Records unter Vertrag, und der flächendeckende Erfolg ihrer Debütsingle bestätigt den Riecher von Kara Elizabeth DioGuardi, ihrer Entdeckerin.

Average Girl

Gayle wird seit ihrem Erscheinen gerne als "neue Avril Lavigne" bezeichnet, denn wie das rotzige Gör aus den Nullerjahren, das im Februar ein neues Album veröffentlicht, füllt Gayle die Rolle des Misfit gut aus.

Sie ist ein Girl, wie es sie an jeder Highschool gibt. Ein bisserl punkig, ein bisserl gepierct, ein bisserl tätowiert und goschert. Ihre Physis gleicht, zeitgeistig günstig, jener der akuten Galionsfigur des adoleszenten Pop, Billie Eilish. Gayle liegt also abseits der Normen voll in der Norm. Und sie spielt Stromgitarre.

Zweite Kraft

Das wird jene Chronisten irritieren, die regelmäßig Genres und Formate für tot und gestorben erklären. Den Jazz, die Rockmusik, das Album, die Albumrezension … zumal das Erstarken des Hip-Hop zur zweiten treibenden Kraft des Mainstreams neben Rockmusik offenbar dazu verleitet, alles andere aus den Augen zu lassen. Und damit die Tatsache, dass in den 1990ern so etwas wie das Zeitalter der Gleichzeitigkeit im Pop angebrochen ist, in dem jede Menge Stile parallel existieren, von den Bastarden, die sie hervorbringen, ganz zu schweigen.

GAYLE

Zuletzt wurde die Gitarre wieder öfter totgesagt. Ein Unsinn. Nicht zuletzt die Pandemie leitete ein Revival für dergestalt gebaute Musik ein, und so manchem Gitarrenbauer hat die Nachfrage der im Lockdown festsitzenden Menschen Umsatzrekorde beschert.

Dazu kommt, dass selbst im Schlafzimmer mit ihrem Laptop verwachsene Produzenten spätestens dann vor einem Problem stehen, wenn sie erfolgreich sind und ihre Kunst auf die Bühne bringen müssen. Da ist eine Band mit Instrumenten doch spannender anzuschauen als ein die Maus klickender Buckel hinterm Schirm eines Laptops. Außerdem ist auf die Revival-Kultur Verlass. Alles kommt wieder, manches modifiziert, anderes eins zu eins. Alles gut, alles okay.

Gegen fiese Boys

Gayle ist Ausdruck und Produkt all dessen. In ihrem Fall klingt das Ergebnis nach den 1990er-Jahren, nach Acts wie Liz Phair oder den Breeders vielleicht – ohne wetten zu wollen, dass Gayle diese Namen überhaupt kennt. Muss sie nicht, sie macht einfach.

Wegen der Karriere ist sie von Texas nach Nashville umgezogen. Dort erweist sie sich als Wiedergängerin ohne Retro-Mief, denn dafür fehlt ihr schlicht die biografische Beschaffenheit. Aber für ihre Zielgruppe ist sie fresh, für das ältere Publikum erfrischend aufmüpfig, das ist als Haltung sowieso immer in Mode. Sie singt in einer Mischung aus guter und schlechter Laune gegen fiese Boys an, hängt artgerecht am Handy und geht mit ihrer Gang dem Recht auf Party nach. Die Gitarre übersetzt dieses Lebensgefühl in die Dynamiken von laut und leise und Stop-and-Go. Das scheint beim Publikum gut anzukommen.

Hormone und Buben

Deshalb könnte ihre Party bald aus den Fugen geraten. Zumindest lässt der Erfolg der ersten Single darauf schließen. Die zweite ist am Freitag erschienen und schlägt in dieselbe Kerbe: Ur Just Horny heißt der Song – Hormone und Probleme mit Buben, ein Evergreen, das Wenn Teenager träumen von 2022. (Karl Fluch, 23.1.2022)