Die Einschränkung der Freiheit im Namen der Solidarität war ein Notnagel in dieser Pandemie, auf den man rasch wieder verzichten sollte, sagt der Philosoph Julian Nida-Rümelin im Gastkommentar.

Illustration: Fatih Aydogdu

An den extremen Rändern der Maßnahmenkritiker wird nun schon seit bald zwei Jahren von einer drohenden Corona-Diktatur gemunkelt. Das ist Unsinn. Niemand nimmt die Pandemie-Lage in Europa zum Anlass, um demokratische Institutionen zu zerstören und eine Diktatur zu errichten. Es gibt auch global gesehen keinerlei Hinweise darauf, dass internationale Kräfte versuchten, die Pandemie zu nutzen, um ihre Bevölkerungen zu unterdrücken und ihnen ihre Freiheiten zu nehmen.

Und dennoch: Die Form der Pandemie-Bewältigung gibt Anlass zur Sorge. Könnte es sein, dass sich das Verhältnis von individueller Freiheit einerseits und staatlicher Verantwortung andererseits nachhaltig verschiebt? Ist etwa zu erwarten, dass sich durch die Erfahrungen in der Pandemie die Einstellungen der Menschen verändert haben und dies nach dem Ende der Pandemie fortwirken wird? Jedenfalls sprechen die Pandemie-Erfahrungen dafür, über die Grenzen der Staatstätigkeit in einer liberalen und sozialen Demokratie nachzudenken.

Wieder Akteur

Die Weltfinanzkrise 2009 war eine historische Zäsur. Mit ihr ging die Zeit des westlichen Triumphalismus nach dem Ende der bipolaren Weltordnung durch den Zusammenbruch des sowjetischen Herrschaftssystems zu Ende und damit auch die Utopie einer sich selbst tragenden Dynamik entfesselter Märkte. Unklar blieb damals und unklar ist heute, was an die Stelle treten soll.

In der ökonomischen Theorie hat der zuvor totgesagte Keynesianismus wieder Fuß gefasst, er prägt zunehmend Programmatik und Praxis internationaler Institutionen und finanzpolitischer Akteure. Die wachsende Ungleichheit ist wieder Thema und gilt unterdessen nicht als Stimulanz, sondern als Bedrohung wirtschaftlicher Prosperität. Der Staat ist als Krisenretter und Steuerungsinstrument wieder gefragt. Auch vonseiten der Finanzwirtschaft. Hemmungslose ökonomische Freiheit und ein umfassender Rückzug des Staates stehen nicht mehr auf der politischen Agenda.

Ich halte das längst für überfällig. Die letztlich anarchistische Idee, dass Ordnungsstrukturen sich von selbst einstellen, wenn man die Märkte nur von allen Restriktionen befreit, war von jeher ein Irrtum. Märkte und ökonomische Rationalität sind unverzichtbar für eine prosperierende Wirtschaft. Und zugleich schaffen Märkte, auf selbst gestellt, unerträgliche soziale Bedingungen. Es ist der Staat und nicht lediglich wohltätige Organisationen, der für den Ausgleich in Gestalt sozialstaatlicher Strukturen sorgen muss. Er hat als neutraler Akteur die Bedingungen wirtschaftlicher und sozialer Aktion zu gestalten.

Höchste Zeit

Die Einsicht des Ordo-Liberalismus, wie sie in Deutschland und in Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg politisch wirksam wurde und ökonomisch erfolgreich war, nämlich dass es ohne einen sanktionierten staatlichen Ordnungsrahmen keine gute Entwicklung geben kann, kehrt in die politische Arena zurück. Ich begrüße das, denn es war höchste Zeit, von den krypto-anarchistischen Vorstellungen marktradikaler Ideologen Abstand zu nehmen. Ohne sozialen Ausgleich, ohne staatliche Vorsorge, ohne Regulierung der Finanzmärkte und ohne eine konsequente globale, politisch verantwortete Klimastrategie wird es keine gute Zukunft geben.

Diese Aufwertung staatlicher Verantwortung und staatlicher Gestaltungsansprüche darf sich aber nicht zu einer Gefährdung individueller Rechte und Freiheiten auswachsen. Diese sind essenziell für die demokratische Ordnung, sie schränken legitimes staatliches Handeln ein. In der Pandemie waren die meisten Menschen bereit, auch empfindliche Freiheitseinbußen in Kauf zu nehmen, um eine Gesundheitskatastrophe zu verhindern. Daraus darf aber nicht der Schluss gezogen werden, dass der Staat in Zukunft die Verantwortung für einen optimalen Gesundheitsschutz trägt und er aus dieser Verantwortung heraus Freiheitsbeschränkungen auferlegen darf.

Rascher Verzicht

Jede einzelne Bürgerin und jeder einzelne Bürger muss auch in Zukunft das Recht haben, sich selbst zu schädigen, ungesund zu leben, sportliche Betätigungen abzulehnen, Vorsorgeuntersuchungen zu unterlassen. Übergewichtige, Raucher und Zecher belasten das Gesundheitssystem deutlich stärker als schlanke, alkoholabstinente Nichtraucher. Ich möchte jedoch nicht in einem Staat leben, der Rauchern den Zugang zu Intensivstationen untersagt, Übergewichtigen zusätzliche Steuerbelastungen auferlegt und Alkoholkranken medizinische Leistungen vorenthält.

Die Solidarität ist inklusiv oder sie ist keine. Die Einschränkung der Freiheit im Namen der Solidarität war ein Notnagel in dieser Pandemie, auf den wir aber so rasch als möglich wieder verzichten sollten. (Julian Nida-Rümelin, 23.1.2022)