Für Menschen, die den Blick auf das österreichische Corona-Dashboard noch nicht aufgegeben haben, war der vergangene Mittwoch denkwürdig. In den 24 Stunden davor seien 31.070 neue Positivfälle registriert worden – ein Allzeithoch und mehr als doppelt so viele Fälle wie tags davor, wurde am Morgen auf Basis der Daten aus dem Epidemiologischen Meldesystem (EMS) berichtet.

In der erreichbaren Öffentlichkeit verursachte das eine Schockwelle. Angesichts der plötzlichen Fallzahlexplosion müsse jetzt rasch gehandelt werden, meinten manche, die den offiziellen Beteuerungen, dass das Infektionsgeschehen unter Omikron anders als unter Delta zu beurteilen sei, nicht ganz trauen. Andere redeten gar einem weiteren Lockdown das Wort.

Dann jedoch begann die fulminante 30.000-Fälle-Überschreitung zu wanken. Man müsse die Zahl um viele Doppelmeldungen bereinigen, verkündeten Fachleute. Auch sei kein momentaner Zahlensprung anzunehmen, sondern ein kontinuierliches Plus über die Tage davor, das aber immer erst Mitte der Woche in der Statistik aufschlage. Am späteren Mittwochnachmittag verlautete aus dem Innenministerium eine niedrigere Zuwachszahl. Es handle sich um 27.677 neue Fälle; bei allen Unabwägbarkeiten immer noch ein Negativrekord.

Die täglichen Meldungen der Positivtestungen sowie die Sieben-Tage-Inzidenz sagen wenig über das individuelle Risiko zu erkranken aus.
Foto: APA/Sebastian Kahnert

Wie aber mit genau diesen Ungenauigkeiten umgehen, die ihre Ursache in den Tücken des Erfassungssystems haben? Was sagen die täglichen Corona-Fallzahlen über den Stand der Pandemie aus? Und eignen sie sich weiter als Richtschnur für das persönliche Verhalten?

Innerer Alarmzustand

Tatsächlich spricht für den Einzelnen einiges dafür, sich vom täglichen Blick auf das Dashboard zu emanzipieren. Das hat vor allem psychologische Gründe: Mehr als alle anderen zur Seuchenkontrolle eingesetzten Tools und Verhaltensweisen ist das regelmäßige Fällezählen geeignet, in einem Menschen einen inneren Alarmzustand aufrechtzuerhalten. Nach 22 Monaten eines ermüdenden Alltags im Corona-Wellen-bedingten Auf und Ab ist das alles andere als gesund.

Auch sagen die täglichen Meldungen der Positivtestungen sowie die Sieben-Tage-Inzidenz zwar viel über die Entwicklungstendenz der Pandemie als Ganzer aus – aber wenig über das individuelle Risiko zu erkranken. Ein geboosterter Erwachsener oder ein zweimal geimpftes Kind muss Letzteres in weit geringerem Maß fürchten als nicht immunisierte Personen. Laut ersten Erkenntnissen aus Israel könnte das ebenso für die Long-Covid-Gefahr gelten.

Nicht in die Dashboardzahlen einbezogen ist zudem die Dunkelziffer infizierter oder positiv getesteter Personen. Was man nicht zählt, kann man auch nicht ausweisen. Bei Omikron, das laut rezenten Erkenntnissen weniger krankmacht, aber gleichzeitig um einiges ansteckender als frühere Virusvarianten ist, dürften noch mehr Menschen gar nicht merken, dass sie Virusträger geworden sind.

Das schwächt nicht nur die Aussagekraft der täglichen Fallzahlmeldungen für den Einzelnen, sondern es hat auch das Pandemiemanagement als Ganzes verändert. Um das Infektionsgeschehen durch Omikron stark abzubremsen, bräuchte es Shutdown-Maßnahmen von einer Härte, die es in Österreich bisher nicht gab. Darauf wurde zum Glück verzichtet. Das allgemein hohe Fallzahlniveau ist der Preis dafür. (Irene Brickner, 22.1.2022)