Dürfen auch modernste Gaskraftwerke während des Übergangs zum Wasserstoff grüne Etiketten bekommen oder nur Wind-, Wasser- und Solarkraft?

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Brüssel/Paris/Wien – Ein Expertenrat der EU kritisiert die EU-Kommission für ihre Pläne, Atomkraft und Erdgas als nachhaltige Investitionen zu klassifizieren. Die Brüsseler Behörde sollte ihre Pläne für die sogenannte Taxonomie so nicht weiterverfolgen, zitierte Reuters aus einem Entwurf der Expertenstellungnahme. Nur Gaskraftwerke mit Emissionen von maximal 100 Gramm CO2-Äquivalenten pro Kilowattstunde sollten als klimafreundlich gelten – das wäre eine deutliche Verschärfung.

Die Frist zur Stellungnahme der EU-Länder endete Freitagmitternacht. Die Kommission könnte ihre Pläne noch überarbeiten, das schien aber zuletzt unwahrscheinlich. Gut möglich, dass sie ihre Version bereits am Mittwoch beschließt.

Die deutsche Umweltministerin, Steffi Lemke, warnte vor einer Einstufung von Investments in Atom- und Gaskraftwerke als klimafreundlich oder grün. Das sei unnötig und wissenschaftlich nicht fundiert. Auch Gas für den Übergang zu Wasserstoff brauche solch ein Gütesiegel nicht. Diese Taxonomie schade dem Gütesiegel.

Finanz vor Umwelt

Federführend innerhalb der deutschen Regierung ist allerdings das FDP-geführte Finanzministerium. "Wenn ein hocheffizientes modernes Gaskraftwerk als Ersatz für ein Kohlekraftwerk gebaut wird, bringt das eine zügige und konkret messbare CO2-Minderung", betonte der parlamentarische Staatssekretär im Finanzministerium, Florian Toncar. "Wenn dann zusätzlich noch sichergestellt ist, dass dieses Gaskraftwerk auf mittlere Sicht mit klimaneutralem Wasserstoff betrieben wird, handelt es sich eindeutig um eine nachhaltige Investition." Das sei auch so einzustufen. Man werde bei der Kommission "für realistische, umsetzbare Kriterien werben".

Dementsprechend fiel auch die Stellungnahme der deutschen Bundesregierung aus, die der Deutschen Presse-Agentur vorliegt und die am Freitagabend nach Brüssel übermittelt wurde. Man wende sich klar gegen die Einstufung von Atomkraft als nachhaltig, unterstützt aber eine entsprechende Einstufung von Gas als Brückenlösung. "Schwere Unfälle mit großflächigen, grenzüberschreitenden und langfristigen Gefährdungen von Mensch und Umwelt können nicht ausgeschlossen werden. Atomenergie ist teuer und die Endlagerfrage ist nicht gelöst", heißt es in der Stellungnahme. "Aus Sicht der Bundesregierung ist Atomenergie nicht nachhaltig." Für die nach Ansicht der Bundesregierung wichtige Brückentechnologie Erdgas müssten realistische Werte angesetzt werden, damit der Ausbau eines mittel- bis langfristig auf erneuerbaren Energieträgern beruhenden Gasenergiesystems nicht behindert werde.

Auf zwei Planeten?

Auf "zwei unterschiedlichen Planeten" wähnte sich Österreichs Europaministerin Karoline Edtstadler (ÖVP) nach einem Treffen mit Frankreichs Europastaatssekretär Clement Beaune. Frankreich solle als EU-Ratspräsident "ehrlicher Makler" sein. "Wir sind nicht allein mit unserer Position" und "auch nicht naiv", habe Portugal, Spanien, Irland, Luxemburg, Dänemark und Deutschland an der Seite.

Widerstand auch im Europäischen Parlament mit seinen 705 Abgeordneten, allerdings nur ein vergleichsweise zarter Anflug. Die Entscheidung dürfte nicht allein in Expertenkreisen ohne öffentliche Aufsicht debattiert werden, forderten 70 Abgeordnete aus vier Fraktionen in einem Brief an die EU-Kommission, aus dem die Deutsche Presse Agentur zitierte. Sie fordern eine öffentliche Befragung von Bürgern und Organisationen.

Neben der Rüstungsindustrie, die die Abwanderung von Anlegern erwartet, fürchtet die Energiebranche, dass die Taxonomie Investoren abschreckt. Die Finanzierung neuer, für Deutschland immens wichtiger Gasmeiler könnte erheblich erschwert werden. (Reuters, dpa, APA, ung, 22.1.2022)