Joseph Ratzinger wurde 1977 zum Erzbischof von München und Bischof von Freising in Bayern ernannt. 45 Jahre später belasten ihn Vorwürfe schwer.

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"Ich bin erschüttert und beschämt." So hat der Erzbischof von München und Freising, Kardinal Reinhold Marx, auf das Missbrauchsgutachten reagiert, das dieser Tage in Deutschland und darüber hinaus hohe Wellen schlägt. Kardinal Marx ahnt, dass es bei Worten der Beschämung nicht wird bleiben können. Es gehe jetzt, so Marx, um nichts Geringeres als "um die Erneuerung der Kirche".

Zunächst aber will sich der Münchner Oberhirte die 1700 Seiten starke Studie der Münchner Kanzlei Westpfahl, Spilker, Wastl bis zu kommenden Donnerstag vornehmen und dann in einer Pressekonferenz die nächsten Schritte bekanntgeben. Erfreulich wird die Lektüre nicht sein.

Die Gutachterinnen und Gutachter der Kanzlei haben untersucht, ob im Erzbistum München und Freising die Verantwortlichen auf Missbrauchsvorwürfe gegenüber klerikalen Mitarbeitern in den Jahren 1945 bis 2019 korrekt reagiert haben. Fazit: Sie haben dies mitnichten getan. 497 Fälle von Missbrauch, von Vertuschung und Schweigen legten die Gutachter vor und betonten gleichzeitig, die Dunkelziffer sei sehr viel höher.

Im Fokus war auch die Zeit des ehemaligen Papstes Benedikt XVI. in München. Er war dort von 1977 bis 1982 Erzbischof – damals noch als Joseph Ratzinger. Vier Mal habe er nicht adäquat gehandelt, schreiben die Gutachter. Besonders gravierend sei der Fall des Priesters H., der zuvor schon in Nordrhein-Westfalen wegen pädophiler Umtriebe bekannt gewesen war. Er wurde nach München geholt, Ratzinger wollte von offensichtlichen Verfehlungen nichts gewusst haben, was der Gutachter Martin Pusch mit folgender Bemerkung quittierte: "Wir halten die Angaben für wenig glaubwürdig."

Nun ermittelt Staatsanwaltschaft

Das Gutachten hat auch ein juristisches Nachspiel: Die Staatsanwaltschaft München I untersucht derzeit 42 Fälle von Fehlverhalten kirchlicher Verantwortungsträger. Die Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl hat der Staatsanwaltschaft laut Sprecherin Anne Leidinger im Sommer "41 Fälle zur Verfügung gestellt", dazu kam noch ein weiterer Fall im November 2021. "Sie betreffen ausschließlich noch lebende kirchliche Verantwortungsträger und wurden stark anonymisiert übermittelt", sagt Leidinger.

Sollten sich auf dieser Basis "Verdachtsmomente hinsichtlich eines möglicherweise strafrechtlich relevanten Verhaltens der kirchlichen Verantwortungsträger ergeben", würden die entsprechenden Unterlagen bei der Kanzlei angefordert und gegebenenfalls an die zuständigen Staatsanwaltschaften weitergegeben.

In Schutz genommen wird Benedikt XVI. vom deutschen Kardinal Gerhard Ludwig Müller. "Sehen Sie, ich habe es nicht gelesen, aber für mich ist klar, dass er als Erzbischof Ratzinger nicht wissentlich etwas falsch gemacht hat", sagte der frühere Bischof von Regensburg der italienischen Zeitung Corriere della Sera. Er findet: "In Deutschland, und nicht nur dort, ist man daran interessiert, Joseph Ratzinger zu schaden."

Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Limburgs Bischof Georg Bätzing, forderte indes eine "schonungslose" Aufklärung. "Ja, manchmal schäme ich mich auch, dass wir eine solche Vergangenheit gehabt haben", sagte er am Freitagabend in einem Gottesdienst.

Vatikan will Bericht einsehen und prüfen

Und wie reagiert der Heilige Stuhl – Ratzinger war von 2005 bis 2013 Papst – auf die Vorwürfe aus Deutschland? Dem Vatikan sei das Münchner Gutachten "derzeit nicht bekannt", erklärte der Leiter des vatikanischen Presseamtes, Matteo Bruni, am Donnerstag. Man sehe sich aber verpflichtet, dem Dokument "gebührende Aufmerksamkeit zukommen zu lassen". Nach Veröffentlichung des Berichts werde der Heilige Stuhl in den folgenden Tagen Einsicht in den Text nehmen und in der Lage sein, ihn im Einzelnen zu prüfen.

Gleichzeitig brachte Bruni im Namen des Vatikans sein "tiefes Bedauern über den Missbrauch von Minderjährigen durch Kleriker" zum Ausdruck. Der vom Vatikan eingeschlagene Weg zum Schutz der Kinder werde fortgeführt, versicherte der Vatikansprecher.

Paradoxe Situation

Das Gutachten mit den schwerwiegenden Vorwürfen an den emeritierten Papst Benedikt XVI. hat auch im Kirchenstaat wie eine Bombe eingeschlagen: Der etwas betreten wirkende Kommentar Brunis belegt dies anschaulich. Vatikannahe Medien betonten, dass es schon etwas paradox sei, dass nun ausgerechnet derjenige Papst mit Vertuschungsvorwürfen konfrontiert sei, der als erster Pontifex das Thema des sexuellen Missbrauchs in der Kirche aufgegriffen, sich bei den Opfern entschuldigt und eine Strategie der Null-Toleranz eingeleitet habe. Aber das Gutachten hat dem Vatikan schmerzhaft in Erinnerung gerufen, dass der Missbrauchsskandal noch nicht ausgestanden ist.

Dies nicht zuletzt deshalb, weil dem Nachfolger von Benedikt XVI. auf dem Papstthron, Franziskus, in seiner Heimat Argentinien ein ähnliches Fehlverhalten vorgeworfen wird: Als Erzbischof von Buenos Aires sei Jorge Mario Bergoglio ebenfalls nicht mit der nötigen Strenge und Konsequenz gegen mutmaßliche Kinderschänder im Priestergewand vorgegangen.

Die Organisation Bishop Accountability kritisiert, dass Bergoglio zum sexuellen Missbrauch argentinischer Priester geschwiegen habe. Er habe das Problem des Kindesmissbrauchs "nicht öffentlich gemacht, sich bei den Opfern nicht entschuldigt und keine Richtlinien zum Umgang mit Pädophilen innerhalb der Kirche veröffentlicht".

Franziskus nicht in Argentinien

Argentinische Opfervereinigungen fordern seit langem ein Treffen mit dem heutigen Oberhirten. Doch Franziskus, der seit seiner Wahl zum Papst im März 2013 schon die halbe Welt – und auch südamerikanische Länder wie Chile und Peru – bereiste, hat sich in seinem Heimatland als Pontifex bisher nicht blicken lassen.

2019 forderten argentinische Missbrauchsopfer wie der 20-jährige Ezequiel Villalonga, dass sie von Franziskus wenigstens in Rom empfangen werden. "Wir haben so viel gelitten, das muss endlich aufhören", klagte Villalonga. Seine Bitte um Audienz bei Papst Franziskus sei bisher nicht erhört worden. (Birgit Baumann aus Berlin, Dominik Straub aus Rom, 22.1.2022)