In der Serie alles gut? denkt STANDARD-Redakteur Andreas Sator über eine bessere Welt nach – und darüber, welchen Beitrag er leisten kann. Melden Sie sich hier für seinen kostenlosen Newsletter an.

Damit an der Grenze zur Slowakei die Natur wieder ein bisschen mehr Natur sein kann, braucht es zuerst den Menschen, einen Bagger und 1.000 Lkw-Ladungen Steine. Die March ist der Grenzfluss zwischen Österreich und der Slowakei und nur mehr ein Schatten ihrer selbst, seit sie reguliert, begradigt, man kann auch sagen: vom Menschen gebändigt wurde. Sie fließt brav vor sich hin, die Dynamik, wie das Fachleute nennen, ist dahin – und mit ihr der Großteil der Fische, Krebse und Muscheln, die mal da waren.

Auf einer Strecke von 700 Metern räumt der Baggerfahrer Toni in zwei Monaten weg, was in mühsamer Arbeit mit Scheibtruhen über Jahre gebaut wurde. Was hier passiert, ist nicht spektakulär, ein Bagger, der die Uferbefestigung auf einen Lkw lädt, alle 15 Minuten ist er voll, dann kommt der nächste. Und so ist diese Baustelle ein kleines, von der EU gefördertes Naturschutzprojekt. Oder man sieht in ihr etwas Größeres, eine langsame, zu langsame, Neuordnung der Beziehung zwischen Mensch und Natur.

Ein Baggerfahrer baut das Ufer zurück.
Foto: Johannes Roither / Riocom

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Es ist ein grauer, kalter Morgen, als Sarah Höfler aus dem Auto steigt. Sie ist so etwas wie die Stimme der Natur bei der Baustellenbesprechung im Auenreservat des WWF, einer NGO. Die Mühlviertler Gewässerökologin, Typ Öko, aber oberösterreichisch-pragmatischen Zuschnitts, schaut, dass der Uferrückbau hier so gemacht wird, dass Tiere und Pflanzen so viel wie möglich davon haben. Toni hat Donau und March schon in vielen Projekten naturnäher gemacht, sagt sie, er habe viel Erfahrung, "da muss man nicht auf so viel aufpassen". Wenn er fertig ist, soll hier die March stärker übers Ufer treten können.

Drei bis vier Meter sind derzeit noch Steine gestapelt unter der Erde, sie geben der March vor, wo sie zu fließen hat. Der Fluss soll ein wenig Freiheit gewinnen, die Au, so nennt man das Gebiet rund um Bäche und Flüsse, in das immer wieder Wasser tritt, soll wieder mit dem Fluss verbunden werden. Das Ufer der March soll dann vielfältiger sein, an manchen Orten steil, damit etwa der Eisvogel dort in Höhlen brüten kann, mancherorts flacher, es sollen Nebenarme entstehen, in denen Jungfische aufwachsen können, die es ruhig brauchen, Buchten, flache Gewässer, geflutete Wiesen, alte Bäume im Fluss liegen bleiben.

Und so sieht es aus, wenn es fertig ist: Dieses Ufer an der March ist bereits rückgebaut.
Foto: Johannes Roither / Riocom

Also ein bisschen mehr so, wie es früher war. Naturnah nennt man das dann, wenn es glückt. Die March eignet sich dafür besonders gut, sagt Höfler, weil sie wenig verbaut ist. Es gibt dort keine Wasserkraft, keine Querbauten wie alte Mühlen und auch keine großen Städte. In München wurde etwa versucht, die Isar zu renaturieren, mit begrenztem Erfolg, weil dort so viele junge Leute gerne feiern gehen. Die March hat dieses Problem nicht, ein anderes, wie fast alle Flüsse dieser Welt, schon: Das Leben in ihr ist massiv zurückgegangen. Die Biomasse, also das Gewicht aller Lebewesen, ist um 90 Prozent geschrumpft.

Damit sind wir bei der großen Erzählung, beim Sechsten Massensterben, das gerade auf der Erde stattfindet. Das Fünfte wurde ausgelöst durch einen Kometen, damals starben die Dinosaurier aus und mit ihnen der Großteil der Arten. Jetzt übernimmt den Job der Mensch, eine Million von acht Millionen Arten auf der Erde ist gefährdet. Es ist unvorhersehbar, was es für Menschen heißt, wenn sie nicht mehr da sind. Wenn man an das Artensterben denkt, kommen einem Bilder von mit Pestiziden besprühten, riesigen Maisfeldern in den Kopf oder mit Plastik verschmutzte Ozeane. Dabei sind die Flüsse der Erde noch stärker betroffen.

Das große Sterben

Der Living Planet Index ist so etwas wie eine Volkszählung der Natur. Für 944 in Gewässern vorkommende Arten an Säugetieren, Vögeln, Amphibien, Reptilien und Fischen gibt es gute Daten. Sie zeigen: Seit 1970 ist die Population dieser Arten insgesamt um unglaubliche 84 Prozent zurückgegangen. Die Entwicklung an der March ist also keine Ausnahme, sondern ziemlich repräsentativ. Jede zweite Fischart in Österreich ist gefährdet. Süßwasser ist 2,3 Prozent der Landfläche der Erde, aber Heimat für 9,5 Prozent der Arten.

In Österreich ist das Wasser zwar halbwegs sauber, aber 57 Prozent der Gewässer sind ökologisch in keinem guten Zustand. Und das, obwohl es seit dem Jahr 2000 eine Richtlinie der EU-Kommission gibt, die vorschreibt, dass die Mitgliedsstaaten ihre Gewässer bis 2015 in einen ebensolchen zu bringen haben. Nun gilt die Frist bis 2027, und Experten sind sich einig, dass es sich wieder nicht ausgeht, weil die Politik viel zu langsam handelt. In Deutschland ist die Situation noch viel horrender, dort sind 93 Prozent der Gewässer in keinem guten Zustand.

Tempo, Tempo, kleine Schnecke

Das, was gerade an der March und anderen Flüsse wie der Traisen im Mostviertel oder der Emscher im Ruhrgebiet passiert, müsste also an viel mehr Flüssen gemacht werden. Aber nicht nur Renaturierungen wie etwa der Rückbau künstlich angelegter Ufer sind notwendig. Es gibt an den Flüssen in Österreich auch zigtausende Querbauten, die die Flüsse bremsen, etwa Wasserkraftwerke, Wehre und Mühlen. Im Schnitt kommt auf einen Kilometer Fluss in Europa eine künstliche Barriere, sagt Klement Tockner, Generaldirektor der Senckenberg-Gesellschaft für Naturforschung. Über viele Jahrhunderte wurden Mühlen oder Fabriken neben Flüsse gebaut, weil man die Energie dort nutzen konnte. Viele Bauwerke stehen heute einfach nur mehr herum, sie wegzureißen kostet aber viel Zeit und Geld.

"Gewässer sind Netzwerke", so Tockner, sie müssten durchgängig sein für Wasser, Sediment, Organismen, "der Austausch ist wichtig für die Erhaltung der einzigartigen biologischen Vielfalt". Für Tockner besonders ärgerlich sind Neubauten von Kleinwasserkraftwerken wie etwa am Rantenbach bei Murau, "die tragen ganz wenig zur Energieversorgung bei, aber haben eine sehr schlechte Umweltbilanz, weil sie überproportional viele Ressourcen in Form von frei fließenden Gewässerabschnitten verbrauchen". Fachleute sagen schon lange, dass es besser wäre, die Leistung alter Kraftwerke zu steigern, anstatt neue zu bauen.

Neben der Verbauung setzt auch der Eintrag von Düngern und Pestiziden von Feldern und Wiesen den Flüssen zu, genau wie eingeschleppte Arten und der zunehmende Effekt des Klimawandels. Ein Cocktail, der den Bewohnern der Flüsse zum Verhängnis wird.

Drei bis vier Meter hoch wurden die Steine gestapelt, um den Fluss zu bändigen. Jetzt kommen sie wieder weg.
Foto: Johannes Roither / Riocom

An der March fährt der nächste Lkw über eine extra für die Baustelle angelegte Straße durch den Auwald ab. Die Schneeflocken flattern durch den kalten Wind und landen im Dreck, den die Baustelle zurücklässt. Plötzlich schaut die Ökologin Höfler auf, ein Seeadler spreizt seine massiven Flügel und fliegt über die March, die hier quasi seine Kantine ist. Der Seeadler war schon die ganze Zeit Thema auf der Baustelle, sie muss schnell fertig sein, damit er nicht zu sehr beim Brüten gestört wird. Dass er seit 20 Jahren überhaupt wieder in Österreich brütet, ist ein Erfolg der Naturschützer, denn er galt über ein halbes Jahrhundert als ausgestorben.

Dass Österreich mit dem Seeadler das eigene Wappentier quasi wegstarb, steht exemplarisch für den Konflikt zwischen Mensch und Natur im Land. Viele Bauten wurden lange ohne Rücksicht auf die Natur errichtet. Nach dem Beginn der Industrialisierung entstand in Österreich eine Technik-Euphorie, sagt die Historikerin Gertrud Haidvogel. Große Kraftwerke wie das in Kaprun oder die Regulierung der Donau waren Projekte, auf die man stolz war und die symbolisch dafür standen, dass sich der Mensch der Natur ermächtigt. Dass er die Natur auch braucht, wurde vergessen.

So viele Feuchtgebiete wie Wiesen oder Moore wurden trockengelegt und Flüsse und Bäche beschnitten, um mehr Fläche für die Landwirtschaft und Siedlungen zu gewinnen, dass sich der Ausdruck "zehntes Bundesland" dafür etabliert hat. Heute ist das ein No-Go, und die letzten Moore werden in Österreich streng geschützt. Wenn man ihnen mehr Raum geben kann oder will, schützen Auen vor Hochwasser, weil sie zusätzliches Wasser aufnehmen. Seit 2001 ist der Seeadler zurück, seine Population hat sich gut entwickelt, und seit damals hat sich im Kopf vieler Menschen auch der Umgang mit der Natur verändert.

Eine sieben Kilometer lange Strecke der March wurde schon zwischen 2017 und 2019 renaturiert: hier ein Nebenarm.
Foto: Johannes Roither / Riocom

Mit dem steigenden Wohlstand, der eskalierenden Klimakrise und dem massiven Rückgang der biologischen Vielfalt auf der Erde ist das Bewusstsein dafür gestiegen, dass der Mensch nicht über der Natur steht, sondern nur ein Teil von ihr ist. 2000 war auch das Jahr, in dem in der EU allen Mitgliedsstaaten vorgeschrieben wurde, ihre Flüsse und Bäche in Ordnung zu bringen. Dafür ist noch viel zu tun, es gibt zwar mehr Renaturierungen, aber das Tempo steht in keinem Verhältnis zu den massiven Umweltproblemen. Es braucht mehr Projekte wie das an der March, willige Bürgermeister und Landwirte, die dabei mitmachen.

Der Ökologe Tockner sagt, es müsse absolute Priorität sein, die letzten frei fließenden Flüsse Europas zu schützen, den Tagliamento in Friaul und die Vjosa in Albanien. Die Vereinten Nationen haben die UN-Dekade der Wiederherstellung von Ökosystemen ausgerufen, im Sommer findet in Kunming in China eine Weltkonferenz zum Schutz der Biodiversität statt. An Überschriften mangelt es also nicht. "Alle zehn Jahre werden große Ziele formuliert, die dann wieder nicht eingehalten werden", sagt Klement Tockner. "Der Rückgang der Vielfalt der Natur liegt nicht an fehlenden Zielen, sondern am fehlenden Mut der Politik."

Im nächsten Beitrag der Serie geht es um E-Autos und darum, wie sie zur Bekämpfung von Klimakrise und Artensterben beitragen können. Melden Sie sich für den kostenlosen Newsletter an, um ihn nicht zu verpassen. (Andreas Sator, 6.2.2022)