Auch im Großen Schwurgerichtssaal des Landesgerichts für Strafsachen Wien gelten beim Prozess gegen ein Elternpaar um den gewaltsamen Tod ihrer elf Wochen alten Tochter noch immer Abstandsregeln.

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Wien – "Natürlich hätte ich es nicht tun sollen. Jetzt weiß ich es auch", sagt Erstangeklagter Oliver B., ehe er zu schluchzen beginnt. Auch am zweiten Verhandlungstag um den Tod seiner Tochter, die im Juni 2021 im Alter von elf Wochen an den Folgen eines Schütteltraumas starb, bleibt der unbescholtene also dabei: Er habe das Baby zwar vielleicht dreimal geschüttelt, aber nicht gewusst, dass das schwere Hirnverletzungen bei Neugeborenen auslöst. Unverändert auch die Verteidigungsstrategie der Kindesmutter: Sie habe nie Gewalt gesehen, ihre anderslautenden Aussagen bei Polizei und Richtern seien gelogen gewesen. Die 23-jährige K. wurde der Beitragstäterinschaft zum Mord angeklagt, da sie das Schütteln nicht verhindert habe.

Der Prozess wurde in den Großen Schwurgerichtssaal verlegt, den mit der notorisch schlechten Akustik. Die sich dadurch äußert, dass die Geschworenen bei den Vorträgen der psychologischen und des psychiatrischen Sachverständigen mehrmals darum bitten müssen, dass entweder lauter oder näher an den Mikrofonen gesprochen wird.

Psychische Störungen bei beiden Angeklagten

Was sie im psychologischen Gutachten von Dorothea Stella-Kaiser hören, ist dann Folgendes: Beim 32 Jahre alten B. wurden im Laufe der Zeit sieben verschiedene psychische Störungen diagnostiziert, von einer Borderline-Störung über Panikattacken, Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit bis hin zu ADHS. Auch die Zweitangeklagte K. weist Auffälligkeiten auf, beispielsweise eine dependente Persönlichkeitsstörung. Die dadurch charakterisiert ist, dass Betroffene dazu neigen, sich passiv zu verhalten und keine Verantwortung zu übernehmen.

Stella-Kaiser widerspricht allerdings K.s Verteidiger Timo Gerersdorfer: "Ich konnte bei K. eindeutig keine Intelligenzminderung feststellen, sondern nur Lernschwierigkeiten", hält die Sachverständige fest. Die Zweitangeklagte weise bei diversen Untersuchungen unterschiedliche Ergebnisse auf – während manche Werte unterdurchschnittlich seien, sei beispielsweise ihr Sprachniveau durchschnittlich.

Nicole Baczak, die Vorsitzende des Geschworenengerichts, interessiert ein Punkt zu K. besonders: "Warum antwortet sie manchmal so langsam oder überhaupt nicht?", fragt Baczak die Sachverständige. "Ich befürchte, dass sie genau überlegt, was sie sagen will", lautet deren Antwort. Das ist im Prozessverlauf auffällig: Sobald Widersprüche in ihrer Aussage aufgezeigt werden, behauptet K., die Frage nicht zu verstehen oder schweigt.

"Das muss ich verdrängt haben"

In einem Punkt adaptiert die Zweitangeklagte ihre Aussage allerdings. Nachdem B. behauptet hat, sie habe von dreimal Schütteln das letzte Mal miterlebt, wiederholt die 23-Jährige zunächst, das nicht gesehen zu haben, sagt dann aber: "Das muss ich verdrängt haben."

Vorsitzende Baczak arbeitet auch noch einmal genauer heraus, in welchem Zustand der Erstangeklagte gewesen ist, als er am 4. Juni seine Tochter so schüttelte, dass sie bewusstlos wurde. "Haben Sie etwas getrunken gehabt?", will sie von B. wissen. "Drei Bier. Oder vier." – "Vier bis fünf können auch sein?" – "Ja, ich ging nach der Arbeit zum Wirt", gibt der Erstangeklagte zu. "Nehmen Sie Drogen auch?", lautet die nächste Frage. "Nein." – "THC?", verdeutlicht Baczak, dass der Cannabis-Wirkstoff ein Rauschmittel ist. "Gelegentlich", gesteht der Erstangeklagte zu.

Der gleichzeitig betont, sich in der Ein-Zimmer-Wohnung des Paares stets um seine Tochter gekümmert zu haben: "Ich habe sie oft gefüttert, genommen, gewickelt, geschaut, dass sie ihre Vitamin D-Tropfen bekommt." B. versteht daher nicht, warum ihm von Staatsanwältin Anna-Maria Wukovits vorgeworfen wird, er habe sein Kind mit Vorsatz getötet: "Warum sollte ich sowas tun? Ich habe sie geliebt!", sagt er einmal unter Tränen. "Weil Menschen nicht schwarz/weiß sind", entgegnet ihm der Beisitzer, Landesgerichtspräsident Friedrich Forsthuber.

Therapie für Erstangeklagten dringend notwendig

Der psychiatrische Sachverständige Siegfried Schranz kommt in seiner Expertise über B. zum Schluss, dass dieser "unbedingt eine Therapie" benötige. Der Zweitangeklagte sei in der Vergangenheit bereits zweimal wegen "Selbst- und Fremdgefährdung" von der Polizei in ein psychiatrisches Krankenhaus gebracht worden. "Aber da war ich jeweils nur eine Nacht", relativiert B. – in einem Fall war er sturzbetrunken und so aggressiv, dass er an Armen und Beinen fixiert werden musste.

Gutachter Schranz stellt jedoch klar, dass B. zurechnungsfähig sei – allerdings gefährlich. Die Voraussetzungen für die Einweisung in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher seien aus der Sicht von Schranz daher gegeben. Es bestehe das Risiko, dass der Unbescholtene in einer ähnlichen Situation wieder ein unruhiges Baby schüttle, falls er nicht adäquat behandelt werde. B. sieht das nicht so: "Ich könnte niemals noch einmal einen anderen Menschen verletzen", beteuert er.

Im Schlussvortrag betont Anklägerin Wukovits, sie habe nie behauptet, dass die beiden Angeklagten das Kind absichtlich getötet hätten. Aber: "Mord hat viele Gesichter" – B. hat eine Handlung gesetzt, von der er wissen musste, dass sie lebensgefährlich ist. Christa Scheimpflug, Verteidigerin des Erstangeklagten, widerspricht: Ihr Mandant habe keinerlei Vorsatz gehabt, es handle sich daher um Körperverletzung mit tödlichem Ausgang.

K.s Verteidiger Gerersdorfer versucht die Laienrichterinnen und -richter davon zu überzeugen, dass die junge Frau gar keine Chance hatte, irgendetwas zu verhindern. Ihre gegensätzlichen Aussagen vor Polizei und Gericht seien ihrem psychischem Zustand geschuldet.

Schuldspruch am Montagabend

Die Verteidigungsstrategie der Eltern geht nicht auf: Der Vater wird am Abend wegen Mordes zu 17 Jahren Haft verurteilt. Auch die Mutter wird des Mordes schuldig gesprochen – und erhält eine Haftstrafe von 14 Jahren. (Michael Möseneder, 24.1.2022)