Angehörige des Botschaftspersonals der US-Vertretung in Kiew müssen das Land verlassen, lautete eine Vorsichtsmaßnahme aus den USA.

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Die USA überlegen, tausende Soldaten in die baltischen Staaten zu schicken, und die Nato behält ihre Truppen in Bereitschaft. Mehr Schiffe und Kampfflugzeuge sollen die Position des westlichen Bündnisses gegen Moskau stärken, während die Europäische Union – wie von Kiew gefordert – über härtere Sanktionen verhandelt. Doch wie stehen die verschiedenen Staaten und Akteure eigentlich zu dem Konflikt? Lesen Sie im Folgenden über die jeweiligen Interessen.

Nato/Europa

Uneinige EU will Putin zum Frieden drängen, Nato rüstet auf

Nach außen hin scheint alles in Ordnung: Die Europäische Union tritt Russland geeint entgegen. Deswegen sind die Außenminister der EU-27 am Montag nach Brüssel gekommen. Mit dem (per Videokonferenz zugeschalteten) US-Kollegen Antony Blinken sollten sie eine gemeinsame Erklärung und auch eine eng abgestimmte Strategie erarbeiten, wie die Union und die ihr verbundene Nato (der 21 EU-Staaten angehören) auf eine russische Intervention in der Ukraine reagieren würden. Am Montagabend wollte zusätzlich Präsident Joe Biden mit den Verbündeten via Videocall sprechen.

Dass eine Invasion zu harten Wirtschaftssanktionen führen würde, wurde bereits verkündet. Was das konkret bedeuten würde, dazu schwieg man sich bisher aber aus. Unklar ist, welche Art von "Intervention" das auslöst.

Die 27 EU-Staaten sind sich nicht einig darin, wie eine Reaktion – in abgestufter Form – ablaufen würde. So gab es die Überlegung, dass Russland von Swift, dem weltweiten Austauschsystem von Bankdaten, ausgeschlossen werden soll. Deutschland lehnte dies ab, es würde Europas Zahlungssysteme in Probleme stürzen. Berlin (und auch Österreich) fürchtet zudem, dass Moskau durch Gegenmaßnahmen bei Gaslieferungen einen schweren Schaden anrichten könnte. Paris drängt auf Gespräche mit Präsident Wladimir Putin im "Normandie-Format": also mit Frankreich, Deutschland, Russland, Ukraine. Diese wird es in kleiner Form demnächst auch geben: Am Mittwoch treffen sich die Unterhändler der vier Staaten in Paris.

Wieder anders die regional betroffenen EU-Staaten, von Finnland über das Baltikum bis Rumänien: Sie fordern eine harte Linie, setzen auf die Nato. Das transatlantische Bündnis kündigte Montag an, die Präsenz in Osteuropa durch Kampfflugzeuge und Soldaten zu verstärken.

Seit dem Nato-Gipfel 2016 – Folge der Krim-Annexion – sind Bataillone mit 7500 Soldaten und Panzern in Estland, Lettland, Litauen und Polen rotierend im Einsatz, auch weil Russland in der Enklave Kaliningrad bedeutende Kampfverbände und Raketen stationiert hat.

USA

Biden will Diplomatie und Abschreckung

Montagfrüh ließ eine Nachricht die ohnehin nervöse Welt aufschrecken: Die USA ziehen wegen des Konflikts mit Russland ihr nicht dringend benötigtes Botschaftspersonal aus der ukrainischen Hauptstadt Kiew ab. Familienangehörige werden zudem ersucht, das osteuropäische Land so schnell wie möglich zu verlassen.

Was anderenorts als Zeichen für einen bald anstehenden Waffengang gedeutet würde, ist im Falle der Ukraine aber bloß ein Rädchen, das dieser Tage an der diplomatischen Eskalationsspirale dreht. Am Wochenende berichtete die New York Times von einem möglichen Kurswechsel von US-Präsident Joe Biden, der sich bisher vergleichsweise reserviert gehalten hatte, was eine militärische Antwort auf den befürchteten russischen Militäreinsatz betrifft. Biden, so die Zeitung, erwäge die Verlegung von – in einem ersten Schritt – bis zu 5000 G.I.s samt schwerem Gerät wie Kriegsschiffen nach Osteuropa. Moskau, das auf eine Antwort Washingtons auf seinen in Genf vorgelegten Forderungskatalog wartet, reagierte mit Drohungen. Am Montagabend verkündete das US-Verteidigungsministerium Pentagon, dass zunächst 8.500 Soldaten in erhöhte Bereitschaft gesetzt wurden.

Dass die USA, nach zwanzig Jahren Afghanistan kriegsmüde, Truppen in das Nicht-Nato-Land Ukraine schicken, gilt nach den Worten von Außenminister Antony Blinken aber als so gut wie undenkbar. Wie Präsident Biden wird auch er nicht müde zu betonen, wie hoch der Preis für Moskau wäre, sollte seine Armee die Ukraine angreifen.

Russland

Moskau fordert Antwort auf Ultimatum

Die russische Führung weist alle Meldungen über einen angeblich geplanten Angriff auf die Ukraine als "fake" zurück. Moskau sieht darin nicht nur einfach eine Diskreditierung seiner eigenen Position, sondern den Versuch, die Lage weiter zu destabilisieren. Kremlsprecher Dmitri Peskow erklärte diesbezüglich am Montag, Russland sehe die steigende Gefahr eines ukrainischen Angriffs auf die von Separatisten kontrollierten Gebiete im Donbass.

Den Abzug seiner kolportiert gut 100.000 Mann starken Truppen von der ukrainischen Grenze lehnt Russland ab. Im Gegenteil, Moskau startet nun auch ein gemeinsames Militärmanöver mit Belarus, das bis in die zweite Februarhälfte andauern soll, und bringt damit weiteres Militär in die Nähe der Ukraine.

Zugleich drängt Russland vor dem Hintergrund dieser Drohkulisse auf eine schriftliche Antwort der USA auf den eigenen Forderungskatalog. Als letzte Frist gilt Ende Jänner. Die russische Führung lässt natürlich bewusst offen, welch ein Kompromiss sie zufriedenstellt. Als eine Möglichkeit gilt ein Abkommen über den Abzug des Raketenschilds in Ost- und Mitteleuropa, der Moskau seit Jahren enerviert. Offiziell bezeichnet Moskau aber auch den möglichen Nato-Beitritt der Ukraine weiterhin als "rote Linie", die nicht überschritten werden dürfe, wobei der Kreml mögliche Konsequenzen einer Ablehnung dieser Forderung nicht erörtert.

Foto: Der Standard

Ukraine

Angst vor Moskau stärkt Westorientierung

Seit Wochen rätselt die Welt darüber, was Moskau konkret im Schilde führt. Doch die meisten Szenarien, die derzeit durchgespielt werden, haben eines gemeinsam: Sie sehen die Ukraine als momentanes Hauptziel eines möglichen russischen Angriffs – in welcher Form und in welchem Umfang auch immer.

Entsprechend groß ist in Kiew die Nervosität. Spätestens seit der De-facto- Annexion der Krim 2014 und der Errichtung der sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk durch prorussische Separatisten im Donbass sieht sich die Ukraine als Opfer von Großmachtgelüsten im Kreml. Dass dieser Truppen an der Grenze aufmarschieren ließ, verleiht dem ukrainischen Streben nach einem Nato-Beitritt, den Moskau eigentlich verhindern will, neue Nahrung.

Am Montagabend rief ein Regierungsvertreter in Kiew allerdings zur Ruhe auf und versuchte zu beschwichtigen: "Wir sehen zum heutigen Tag überhaupt keine Anhaltspunkte für die Behauptung eines großflächigen Angriffs auf unser Land", sagte der Präsidialberater und Sekretär des nationalen Sicherheitsrats, Olexij Danilow, vor Journalisten.

Kiew wünscht sich vom Westen jedenfalls neben diplomatischer Unterstützung auch weitere Waffenlieferungen und den Stopp der Pipeline Nord Stream 2, die unter Umgehung der Ukraine russisches Gas nach Deutschland pumpen soll. Dass Berlin dabei nicht mitzieht und vor allem Waffenlieferungen in das Krisenland ausschließt, sorgt in der Ukraine für heftige Kritik. Aus Sicht Kiews sind diese Differenzen auch deshalb ein Problem, weil Deutschland neben Frankreich Vermittler bei Verhandlungen mit Russland im Normandie-Format ist.

Großbritannien

Johnson positioniert sich als wichtiger Verbündeter

Die konservative Regierung von Premier Boris Johnson hat sich klar zugunsten der Ukraine positioniert. Premier Boris Johnson warnte Moskau vor einer weiteren Invasion der Ukraine: "Das würde eine schmerzhafte, gewalttätige und blutige Angelegenheit werden." Zur Unterstützung gehören Waffenlieferungen für Kiew, öffentliche Anschuldigungen gegen prorussische Politiker der Ukraine sowie die Stationierung von mehr als 1000 Soldaten im Baltikum. Im Kampf gegen die Drohgebärden des russischen Präsidenten Wladimir Putin geriert sich die Brexit-Insel als wichtigster europäischer Nato-Verbündeter Osteuropas. Auch vor ungewöhnlicher öffentlicher Schelte scheut der Premier nicht zurück. Jetzt sei "nicht die Zeit", über Europas strategische Autonomie zu diskutieren, hieß es am Wochenende – ein Nasenstüber für Frankreichs Emmanuel Macron. Bereits im November nannte er die Nordstream-2-Gaspipeline ein "massives strategisches Problem für die europäische Sicherheit".

Bei aller demonstrativen Einigkeit gibt es auch in London erhebliche Bewertungsunterschiede. Vizepremier Dominic Raab nannte die Bereitstellung britischer Truppen "sehr unwahrscheinlich". Die Äußerung wurde vom Vorsitzenden des auswärtigen Ausschusses kritisiert: Die westliche Allianz dürfe Putin nun "keine Gewissheit" geben; vielmehr müssten Zweifel bestehen bleiben, wie der Westen auf eine Invasion reagieren werde, sagte Tom Tugendhat.

Was die harte Haltung gegenüber Russland angeht, besteht in London Partei-übergreifende Einigkeit. Labour-Oppositionsführer Keir Starmer lobte am Wochenende ausdrücklich Verteidigungsminister Ben Wallace, der Waffenlieferungen an Kiew ermöglicht und in einem Grundsatzartikel Moskaus imperiale Ambitionen erläutert hat. (André Ballin aus Moskau, Sebastian Borger aus London, Thomas Mayer aus Brüssel, Florian Niederndorfer, Gerald Schubert, 23.1.2022)