Es gibt Tatsachen, die sind so absurd, dass man sie nur deshalb glaubt, weil es noch absurder wäre, sie zu erfinden. Wie etwa, dass man in den Fingern keine Muskeln hat, dass in jeder Stunde Video-Content für dreieinhalb Jahre auf Youtube hochgeladen wird, dass Elvis eigentlich blond war. Oder dass die spezielle Faltung der Kaiserserviette bei Staatsbanketten ein offizielles österreichisches Staatsgeheimnis ist.

Warum genau das so ist, können allerdings auch dessen Trägerinnen nicht wirklich schlüssig erklären – und sehen auch gar keinen Grund dazu. "Es ist eben so", meint Bibiana Fugger, die uns gemeinsam mit Anja Hasenlechner, der wissenschaftlichen Leiterin der Abteilung historische Sammlungen, beim Termin in der Österreichischen Silberkammer in der Hofburg begrüßt.

Bibiana Fugger weiß, wie die spezielle Faltung der Kaiserserviette geht. Das Geheimnis der Technik wird mündlich überliefert.
Foto: Heribert Corn

Eine sehr österreichische Antwort. Fugger (keine Verwandtschaft, liebe Geschichtsprofis) und ihre Kollegin Aline Schwabl sind die einzigen Menschen, die, offiziell zumindest, das Geheimnis kennen, wie aus einem etwa einen Quadratmeter großen Stück Stoff ein kunstvoll gefaltetes Gebilde wird, in dem zwei Stück frisches Jourgebäck (ein Semmerl links, ein Salzstangerl rechts) Platz haben, das einer liegenden Lilie nachempfunden ist – und nur ganz kindische Menschen ein bisserl an ein männliches Gemächt erinnert.

Servietten falten, Goschen halten

Auch ein bisserl kindisch – allerdings auf eine sehr sympathische Art – mutet die Geheimnistuerei rund ums "Serviettenbrechen", so nennt man das dekorative Falten von Stoffservietten in Expertinnensprache, an. Bei unserem Termin darf der Werdegang von Zweidimensionalität zur Dreidimensionalität nicht nur nicht fotografiert, sondern auch nicht einmal zur Gänze beobachtet werden. Und wenn’s doch passieren würde? Hochverrat, Standgericht, Staatskrise? Mitnichten. Die Öffentlichmachung von Staatsgeheimnissen ist in Österreich zwar strafbar, gilt aber, wenn es sich wie hier nicht um verfassungsgefährdende Offenbarungen handelt, als totes Recht.

Zum Einsatz kommt das reinweiße Staatsgeheimnis nur bei den großen Staatsbanketten für Staatsoberhäupter im Zeremoniensaal der Hofburg oder im Oberen Belvedere.
Foto: Heribert Corn

Trotzdem: Das Geheimnis bleibt eines, da bleiben Fugger und Schwabl eisern. Nicht mal ihre Chefin kennt es, auch nicht die Kolleginnen in der Silberkammer, und auch zu Hause im ganz privaten Kreis bei einem Abendessen mit Freunden wird damit nicht angegeben. "Das würde ich nie tun", meint Fugger ruhig, und in diesem Moment weiß man genau, warum ausgerechnet dieser netten, auf den ersten Blick so harmlos wirkenden Person solch historisches Wissen anvertraut wurde. Ob sich das nicht auch ein bisschen cool anfühlt, wenn man eine von nur zwei Auserwählten auf der ganzen Welt ist?

"Na sicher ist das super", grinst sie. Und sie setzt ernsthafter nach: "Meine Kollegin und ich sind uns einig, dass das etwas ganz Besonderes ist und dass wir das auch so beibehalten wollen. Das ist so etwas wie unser Ehrenkodex."

Nur mündlich überliefert

Die spezielle Falttechnik der Kaiserserviette ist tatsächlich ausschließlich mündlich überliefert, über den Faltvorgang gibt es keinerlei schriftliche Aufzeichnungen. Die ältesten Erwähnungen in historischen Publikationen stammen aus der Mitte des 17. Jahrhunderts, in der bekannten Form tatsächlich verbürgt ist die Technik seit 1826 – auf einem Aquarell, das das Speisezimmer von Kaiser Franz I. mit gedecktem Tisch samt gefalteten Servietten zeigt.

Zum Einsatz kommt das reinweiße Staatsgeheimnis nur bei den großen Staatsbanketten für Staatsoberhäupter im Zeremoniensaal der Hofburg oder im Oberen Belvedere. Bei geringeren Anlässen gibt’s Servietten nur in der sogenannten barocken Faltung (die übrigens für die erwähnten ganz Kindischen an das weibliche Gegenstück der gefalteten Kaiserserviette gemahnt – aber das ist eine andere Geschichte). Die letzten hochkarätigen Gäste, die der Kaiserserviette in ihrer natürlichen Umgebung ansichtig wurden, waren der südkoreanische Präsident Moon Jae-in und seine Ehefrau Kim Jung-sook im Juni 2021.

Eine Minute dauert es, bis di edle Kaiserserviette gefaltet ist. Der genaue Vorgang darf weder beobachtet noch fotografiert werden.
Foto: Heribert Corn

Es dauert etwa eine Minute, mit geübter Hand die Kaiserserviette zu falten, erzählt Fugger aus der Praxis. Allerdings ist die genaue Dauer schwer abzuschätzen, weil die Faltung in zwei Tranchen vonstattengeht: Zuerst werden die Servietten in der Silberkammer gleich neben dem Sisi-Museum vorgefaltet und in spezielle Transportkisten geschlichtet. Am Zielort werden die halb gefalteten Servietten dann auf die Platzteller verteilt, fertiggebastelt und mit dem frischen Jourgebäck bestückt – Semmerl links, Salzstangerl rechts.

Damast aus dem 19. Jahrhundert

Imperial ist an der Kaiserserviette auch ihre schiere Größe. Fast ein mal einen Meter misst die historische Serviette, mit dem sich einst Sisi und Franzl den Mund abwischten, und sie besteht zu 100 Prozent aus feinstem Leinendamast. "Damast" nennt man eine Webtechnik, bei der mittels Anordnung der Schuss- und Kettfäden ein eingewebtes Muster entsteht. Und die Kunstfertigkeit, mit der das unglaublich detaillierte Design mit Kaiserkrone in der Mitte umgesetzt wurde, lässt heute noch staunen. Die ältesten erhaltenen Servietten im Bestand sind aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, damals waren weder Spinnereien noch Webereien im großen Stil automatisiert.

Insgesamt gibt es mehrere Tausend Stück aus verschiedenen Herstellungsphasen, die historischen werden noch für Fototermine herausgeholt.
Foto: Heribert Corn

"Das ist alles Handarbeit. Es ist heute fast unvorstellbar, wie das damals gemacht wurde", so Fugger, die als gelernte Schneiderin genau weiß, wovon sie spricht. "Die Qualität war damals auch eine andere. Die Leinenfäden waren viel fester und feiner. Es ist heute ganz schwierig, die alten Servietten zu restaurieren, weil man diese Fadenqualität einfach nicht mehr bekommt." Und Hasenlechner setzt nach: "Es gibt zwar viele Abbildungen dieser historischen Stoffe, aber noch sehr wenig Forschung zum Thema und kaum Publikationen über die Machart. Erst in letzter Zeit wird vermehrt versucht, zu rekonstruieren, wie diese Textilien eigentlich hergestellt wurden." Ein reicher Wissensschatz, der verlorenzugehen droht. Zum Glück ist das Material widerstandsfähig.

Zahn der Zeit

Natürlich sind auch die Kaiserservietten bei aller Zähigkeit dem Zahn der Zeit unterworfen: Sie wetzen sich ab und bekommen Löcher, schließlich ist die Reinigung einer einst blütenweißen Serviette nach einem mehrgängigen Menü keine materialschonende Angelegenheit. Insgesamt gibt es mehrere Tausend Stück aus verschiedenen Herstellungsphasen, die historischen (hergestellt vom k. u. k. Hoflieferanten Regenhart & Raymann) aus dem 19. Jahrhundert werden heute nur noch für Ausstellungen und Fototermine herausgeholt. Die heute im Gebrauch befindlichen Servietten stammen von 1996.

Schwund gibt es, außer natürlicher Abnutzung, erstaunlich wenig. "Bei den Anlässen kommen kaum Servietten weg", erzählt Fugger aus der Praxis. Kaufen kann man die Servietten nicht, und auch mit den ausgemusterten wird sorgsam umgegangen – sie werden archiviert und motten- und staubsicher gelagert, erklärt Fugger, und man merkt, dass ihr jedes Einzelne ihrer "Babys" am Herzen liegt.

Apropos Herz: Auf Youtube kursiert ein Video, auf dem eine japanische Userin – vorgeblich – die Faltung der Kaiserserviette enthüllt, ganz ohne Genierer. "Ich kenne das Video nicht und will es auch nicht sehen. Es wird immer wieder welche geben, die versuchen, das nachzumachen." Hat sie denn keine Angst, dass einmal jemand ans Original herankommen wird? Fugger, im Brustton der Überzeugung: "Sicher net." (Gini Brenner, 27.1.2022)