Museen erschließen seit längerem virtuelle Räume, wie hier im Londoner Victoria and Albert Museum. Bald könnten Ausstellungen sogar gänzlich ins Internet übersiedeln.

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Während zahlreicher Lockdowns mussten Museen weltweit ihre Pforten schließen. Viele Ausstellungshäuser blieben der Öffentlichkeit aber zugänglich, indem sie ihre Sammlungen im Internet präsentierten. Wie verändert sich im virtuellen Raum jedoch die Wahrnehmung der Besucher und Besucherinnen? Vor welche neuen Herausforderungen stellt das die Kuratoren?

Darüber diskutierten Vertreter aus der Museumspraxis und der Kunstgeschichte bei einer vom Belvedere-Museum veranstalteten Online-Konferenz. Der digitale Wandel befeuert vielleicht bloß ein altes Thema der Ästhetik: Betrachtet man ein Kunstwerk nur wirklich, wenn man das Original real vor sich hat? Oder reicht es, die künstlerische Schöpfung in Form einer Reproduktion zu sehen, um sie sinnlich und intellektuell zu erfassen?

Zwei Räume verknüpfen

Zu diesen Streitfragen referierte Werner Schweibenz vom Museumsinformationssystem (MusIS) der Universität Konstanz. Seiner Auffassung nach müsse sich die Museumsarbeit im digitalen Zeitalter von der Trennung des realen Objektes und der digitalen Visualisierung verabschieden.

Die digitale Transformation sei die Erweiterung des realen Museumsraumes in den virtuellen Raum des Internets. "Das Physische und das Digitale sind beides Objekte eigenen Rechts", sagt Schweibenz. Diese stehen in engem Wechselverhältnis und beeinflussen sich gegenseitig. "Es ist also eine komplexe Interdependenz und keine Opposition."

Bei ihrer Geringschätzung des digitalen Museums beziehen sich laut Schweibenz viele Kritiker häufig — falsch interpretierend — auf Walter Benjamins Essay Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit von 1936 und den darin konstatierten Verlust der "Aura" des Kunstwerks in der Ära der Hochtechnologie. Das sei aber ein Fehlschluss.

Weitere Betrachtungsweisen

"Die Virtualisierung von Kunstwerken und von anderen Objekten trägt nicht dazu bei, dass die Aura des Originals, wie von Benjamin behauptet, zerstört, sondern dass sie gesteigert wird." Durch die Vielzahl der Kopien gewinne das Original an Bekanntheit und Verbreitung. Das befördere viele weitere Betrachtungsweisen des Objekts, was bereits Benjamin, der durchaus auch Vorteile der Reproduktion sah, erkannte.

Ohnehin habe sich Kunst schon in früheren Zeiten vor allem durch Reproduktionen verbreitet, sagt der Informationswissenschafter mit Verweis auf Leonardo da Vincis Abendmahl. Im digitalen Zeitalter multipliziere sich durch den Zugriff auf ungleich mehr Reproduktionen die Rezeption erheblich umfassender als in früheren Zeiten. Dass sich dadurch dann später die Betrachtung des ursprünglichen Werks noch einmal stark verändern könne, zeigte Schweibenz am Beispiel des Rijksmuseum in Amsterdam.

Verfälschter Blick

Noch vor einigen Jahren musste sich das Haus regelmäßig gegen den Vorwurf enttäuschter Gäste verteidigen, nicht das Original von Jan Vermeers Dienstmagd mit Milchkrug zu zeigen. Die vorher schon im Netz gesehenen Reproduktionen hatten meist einen deutlichen Gelbstich, weshalb das Museum gegensteuerte, indem es virtuell selbst qualitativ bessere Abbildungen des Gemäldes verbreitete.

Mit solchen praktischen Schwierigkeiten der gegenwärtigen digitalen Museumsarbeit setzte sich Ellen Charlesworth vom Institut für moderne Sprachen und Kulturen der University of Durham in ihrem Vortrag auseinander. Auf den ersten Blick sei es erfreulich, dass Museen durch die gestiegenen Digitalbesuche derzeit im Netz eine größere Aufmerksamkeit bekommen.

"Digitale Spaltung"

Bei genauerer Betrachtung bleiben aber alte Probleme bestehen, da vor der Pandemie in vielen Museen digitale Inhalte und Softwarelösungen – häufig von externen Entwicklern – dezidiert für einzelne Ausstellungen eingerichtet wurden, sodass die Technologie nach Ausstellungsabschluss nicht weiterverwendet werden konnte.

"Wenn ein Projekt beendet wird, gibt es im Haus häufig kein Geld und keine Expertise mehr, um die Technik weiter zu betreiben." Das schränke die Museen darin ein, alte Inhalte weiter zu benutzen oder für neue Ausstellungen zu adaptieren. Somit besaßen viele Institutionen gar nicht die digitale Infrastruktur und die notwendigen Ressourcen, um auf den Ansturm im Internet während der Lockdowns adäquat zu reagieren.

Daher habe sich die "digitale Spaltung" zwischen begüterten Einrichtungen und unterfinanzierten Häusern, denen es an Personal und Wissen fehlt, in dieser Zeit nur noch vergrößert. Viele Museen improvisierten daher in ihrer Not und nutzten bestehende Technologien, sagt Charlesworth.

Gratis, aber mit Haken

Mangels eigener Verbreitungsmöglichkeiten wurden von zahlreichen Museen Abbildungen ihrer Bestände etwa in Form von 3D-Aufnahmen der Ausstellungsräume auf Plattformen wie Google Arts & Culture hochgeladen.

Die Nutzung dieser Plattformen sei kostenlos und einfach. Sammlungen auf diese Art für die Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen sei aber aus zwei Gründen problematisch: Zum einen werde so bloß der reale visuelle Rundgang im Netz dupliziert, ohne multimediale Erweiterungsmöglichkeiten der Museumserfahrung einzusetzen.

Zum anderen werden auf den Plattformen die Nutzungsrechte an die jeweiligen Techkonzerne abgetreten. Diese haben dann viel mehr Einfluss auf die Präsentation und Verbreitung der Inhalte im Netz als die eigentlichen Besitzer der Exponate. "Google kann die Abbildungen modifizieren und an andere lizenzieren. Das bedeutet, dass es Museen unmöglich wird, zu steuern, wo ihre Inhalte zu sehen sind oder wem sie wie gezeigt werden."

Charlesworth rät deshalb, sich eher mit bereits vorhandenen nichtkommerziellen Open-Source-Softwares auseinanderzusetzen, um sich für die neuen digitalen Herausforderungen zu rüsten. Begleitend zu solchen eher theoretischen Überblicken wurde auf der Tagung auch anhand zahlreicher Beispiele darüber spekuliert, wie das Museum der Zukunft möglicherweise noch upgedatet wird.

So besprachen die Experten etwa für die Rezeption auf dem Browser konzipierte Kunstwerke, kuratierende Algorithmen oder die Ausstellungsmöglichkeiten von digitalen Unikaten. Das könnte in so manchem Museum alter Schule noch viel Staub aufwirbeln.(Johannes Lau, 30.1.2022)