Im neuen Gastblog weist Mediator und Jurist Ulrich Wanderer auf die Kluft in der Gesellschaft hin und wie wir respektvoller miteinander umgehen können.

Um ehrlich zu sein, in einer idealen Welt, einer Welt des gegenseitigen Respekts und des kategorischen Imperativs wäre Mediation schlichtweg überflüssig. In einer Welt, in der sich die Menschen für die Meinung des Gegenübers genauso interessieren wie für die eigene Ansicht, in der die Menschen auf die Bedürfnisse und dahinterliegenden Motive – egal, diese perfekte Welt existiert einfach nicht.

In welcher Welt leben wir?

Wir leben in einer Welt, in der die eigenen Wünsche und Ziele vor jenen des anderen stehen, in der "Ich" wichtiger als "Du" ist und dieses auch mit einem durchaus beachtlichen Einsatz versucht wird, durchzusetzen. Nicht erst seit dem erstmaligen Auftauchen des Covid-19-Albtraums zeigt die Gesellschaft ihr Gesicht: "Wir gegen Euch", "Ich gegen Dich", "Meins gegen Deins" ist die Devise. Wir suchen danach, unser Recht zu bekommen, weil wir davon ausgehen, es auch zu haben, während wir dem Konfliktgegner ebendieses absprechen. Dabei werden wir hier von Freunden und Koalitionären tatkräftig unterstützt. Zum Preis, dass wir uns in unserem Standpunkt eingraben und kaum mehr Aussicht auf eine Lösung besteht, die beiden Parteien einen gesichtswahrende Ausweg aus dem Dilemma bietet.

Nehmen wir beispielsweise einen schlichten Nachbarschaftskonflikt an. Die Wände des Wohnhauses entsprechen den Standards der 70er, eine so benannte "Schalldämmung" verdient den Namen nicht, weswegen das Alltags- und Liebesleben der neu zugezogenen Nachbarn bald Teil der Geräuschkulisse wird. Nach ein paar Tagen und dem einen oder anderen Fausthieb an die trennende Wand wird die Hausverwaltung, in weiterer Folge dann die Polizei, verständigt, doch alles ohne Erfolg. Vielmehr besteht nun die Gefahr, dass die neuen Nachbarn, wie aus heiterem Himmel, den Nachbarn von seiner offensiven Seite kennenlernen und so eine positiv besetztes Miteinander mehr oder weniger verunmöglicht wird. Der beiderseitige Frust schafft jetzt eine empfundene Kluft zwischen den Parteien, die sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit durch diverse Missverständnisse noch vertiefen wird.

Das Menschenbild der Mediation

Und was hat dieser Text jetzt mit Mediation zu tun? Es ist die Herangehensweise dieser Konfliktbeilegungsmethode, aber auch das Menschenbild und die Haltung, die den Mehrwert für Medianden und die Gesellschaft an sich bringen. Jene, die sich in dieser Haltung wiederfinden, die "mediativen Menschen", streben in deeskalierendem, bedürfnisorientiertem und respektvoll ergebnisoffenem Denken einen alternativen Umgang mit Konflikten an. Ziel ist dabei nicht der argumentative Sieg über den Kontrahenten, sondern vielmehr die Erkenntnis, dass Konflikte auf unerfüllten Bedürfnissen beider Seiten beruhen.

Ja, freilich hat der Altmieter recht, er hat jedes Recht der Welt, sich in seiner Wohnung ungestört zu fühlen und auch nicht durch diverse Geräusche belästigt zu werden. Doch hat nicht auch das neu eingezogene Paar ein gewisses Recht auf Privat- und Liebesleben? Zumal dieses nicht um Mitternacht, sondern außerhalb der definierten Nachtruhe stattfindet. Hier einen respektvollen Ton zu finden, der gerade in einer so heiklen Thematik ohne Untergriffigkeiten auch für den Nachbarn annehmbar wird, ist die Kunst eines mediativen, vermittelnden Gespräches.

Der Hammermann

Viele Leser und Leserinnen dieses Blogbeitrags werden wohl das oft zitierte Beispiel des "Hammermannes" des großen und unvergessenen Kommunikationswissenschafters Paul Watzlawick kennen. In kurzen Worten zusammengefasst handelt es von einem Mann, der im 1. Stock wohnt und sich den titelgebenden Hammer von einem Nachbarn im 3. Stock leihen möchte. Am Weg ins obere Stockwerk verfestigt sich in ihm die Überzeugung, dass der Nachbar ein bösartiger Mensch wäre, schließlich hatte er ihn (zwar nicht sehen können, aber dennoch) vor drei Wochen einmal nicht gegrüßt. Als der Betreffende nun die Tür öffnet, schleudert ihm unser Max Mustermann nur ein unfreundliches "Behalt Dir Deinen Hammer, Du Depp!" entgegen.

In die andere Richtung geht's auch

Dabei kann es auch so anders laufen. Ja, es kann sein, dass der höfliche Gruß einmal unterblieben ist, schließlich sind wir alle einmal in Gedanken. Wer kennt diese Situation denn nicht? Erst ein unbefriedigendes Telefonat, vielleicht mit dem Partner, Chef oder dem AMS, und dann auch noch der? Es ist schlichtweg menschlich verständlich, dass die Laune nicht immer Purzelbäume schlägt.

Diese Gedanken vor Augen kann der Nachbar aus dem 1. Stock doch auch in eine positive Denkspirale treten und sich von Stufe zu Stufe auf ein positives Gespräch freuen. Die Wirkung einer solchen Unterhaltung, die nahezu an eine paradoxe Intervention grenzen kann, wird wohl die zukünftige Nachbarschaft nachhaltig und vorteilhaft beeinflussen. Es sind schlicht dieselben Mechanismen, die uns ins Negative wie auch ins Positive beeinflussen können.

In einer idealen Welt wären Konflikte und Streitigkeiten schnell aus dem Weg geräumt.
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Respekt, Interesse, Offenheit

Ohne einen Einführungskurs in Mediation schreiben zu wollen, im Endeffekt ist es einfach: Wir sind den respektvollen Umgang miteinander kaum mehr gewöhnt. Die Zeit ist zu knapp, als dass wir mehr als die nötigste Information miteinander teilen, wobei wir gerade deswegen permanent miteinander auf der nonverbalen Ebene kommunizieren. Die Nachrichten lauten: "Ich will mit Dir nicht reden", "Du bist mir egal" oder gar "Du bist mein Feind". Dass Konflikte in einem solchen Klima die blutigsten Blüten treiben, wirkt nachvollziehbar.

Zeigt nun aber der Gesprächspartner – und sei er eben auch ein dafür extra engagierter Dritter – echtes Interesse für den persönlichen Standpunkt, fragt nach, um auch keine Missverständnisse offenzulassen und nimmt sich schlichtweg Zeit für die Bedürfnisse desjenigen, der sich sonst nur mit Geschrei Gehör verschaffen kann, so wirkt dieses Zeitnehmen wie ein Ventil. Der Wunsch, in seinem Anliegen respektiert zu werden, nicht als "Spinner" abgetan zu werden, sondern als Mensch, als Individuum mit all seinen Themen akzeptiert zu werden, ruht in uns allen.

Das Signal, das in Gesprächen im Rahmen einer Mediation gesendet wird, ist schlicht Respekt dem anderen Gegenüber, Interesse den Standpunkten gegenüber und Offenheit hinsichtlich allfälliger Lösungsvarianten. Alleine das Gefühl gehört und ernst genommen zu werden deeskaliert erfahrungsgemäß in einer Vielzahl der Konflikte, weit bevor die tatsächliche Mediation begonnen hat. Auch wenn diese Gespräche eben keine klassische Mediation darstellen, sondern wohl eher als Vorgespräche die Basis schaffen, so legen die mehr oder weniger das Fundament für die weiteren Geschicke.

Irgendwie haben wir doch recht

Mediation ist Haltung, Einstellung und so viel mehr als nur Job. Gerade in Zeiten der Spaltung und des institutionalisierten Konflikts ist es das Ziel der Beiträge, die in diesem Blog nun von Zeit zu Zeit erscheinen werden, Gedanken abseits der standardisierten Rechthaberei einfließen zu lassen. Denn eins ist klar: Wir haben recht, irgendwie haben wir doch alle recht. (Ulrich Wanderer, 27.1.2022)