Warum es mehr und vor allem bessere Bildungsarbeit zu Antisemitismus braucht, beschreibt Politikwissenschafterin Elke Rajal in ihrem Gastblog.

Jedes Jahr rund um den Holocaust-Gedenktag wird die Frage gestellt, was wir aus dem Menschheitsverbrechen lernen können. Entgegen sehr weit gefasster und wohlmeinender Antworten wie „Menschlichkeit“ oder „Demokratie“ plädiere ich für das Naheliegende: Antisemitismus in seinen verschiedenen Facetten erkennen, bekämpfen und vorbeugen, damit sich so etwas wie Auschwitz nicht wiederholen kann.

Antisemitismus ist keine Frage des Alters

Lange wurde in Österreich Antisemitismus primär bei Jugendlichen thematisiert, antisemitische Taten gerne als „Lausbubenstreiche“ abgetan. Unter den Erwachsenen war die Rede von den „Ewiggestrigen“ – jener Generation, die mit Bildung ohnehin nicht mehr zu erreichen sei. In den letzten Jahren kam die Thematisierung des Antisemitismus der muslimischen Mitbürgerinnen und Mitbürger hinzu, die hier keinesfalls gering geredet werden soll, die aber im politischen Diskurs nur zu gerne zur Externalisierung antisemitischer Tendenzen und damit zur Entlastung der Mehrheitsgesellschaft instrumentalisiert wird. Mit der Corona-Krise ist eine neue Gruppe von Judenfeindinnen und -feinden ins Blickfeld gerückt: jene, die bei Anti-Maßnahmen-Demos mitmarschieren und Juden und Jüdinnen als Verursacher, Gewinner oder Steuernde der Krise ausmachen – oder alternativ sich selbst als neue Juden und Jüdinnen betrachten.

Ein paar Zahlen zur Altersverteilung: In der Antisemitismus-Studie des Parlaments von 2020 zeigt sich, dass die Zustimmung zu (pseudorationalen) antisemitischen Aussagen mit dem Alter deutlich steigt. Eine Ausnahme bildete die Aussage, dass Israelis die Palästinenserinnen und Palästinenser im Grunde nicht anders als die Deutschen im Zweiten Weltkrieg die Juden und Jüdinnen behandeln würden: Hier waren es die Jüngeren, die zu einem Viertel voll oder eher zustimmten und zu fast 50 Prozent mit „weiß nicht“ antworteten. Die historische Schuldumkehr fand dafür bei den Älteren stärkere Unterstützung. Insgesamt weist die Studie nach, dass Antisemitismus keine Frage des Alters ist und auch die Bildungsarbeit gegen Antisemitismus – im Bewusstsein der gerade genannten geringfügigen Unterschiede zwischen den Altersgruppen – alle ansprechen sollte.

Corona-Demos: Maßnahmengegner sehen sich in der Pandemie als "die neuen Juden".
Foto: AFP/MIGUEL MEDINA

Bildung gegen Antisemitismus – auch bei Erwachsenen?

Doch kann Bildung Erwachsene überhaupt erreichen? In einer Zeit, in der lebenslanges Lernen beinahe mantraartig propagiert wird, sollte das eigentlich keine Frage sein. Erwachsene tragen ihren Antisemitismus zwar meist schon lange in sich und haben es sich mit ihm bequem gemacht, das heißt aber nicht, dass sie per se keine Bereitschaft zur Reflexion hätten und für alternative Weltdeutungen nicht zugänglich wären. Möglicherweise sind sie sogar zugänglicher als manche Jugendliche, bei denen Bildungsangebote sonst meist ansetzen, und die sich in der Phase der Pubertät besonders ungern ihre identitätsstützenden Vorurteilsstrukturen von Erwachsenen ins Wanken bringen lassen wollen.

Die absolute Mehrheit der wissenschaftlichen und auch pädagogisch-didaktischen Publikationen zu antisemitismuskritischer Bildungsarbeit bezieht sich jedoch auf Jugendliche. Hier wiederum dominiert der Lernort Schule, zunehmend kommt auch die außerschulische Jugendarbeit in den Blick. Antisemitismuskritische Bildungsarbeit mit Erwachsenen ist ein blinder Fleck in der Literatur. Bildungsmaterialien für (ältere) Jugendliche ließen sich grundsätzlich auch gut für Erwachsene adaptieren oder teils sogar unverändert anwenden, aber wo und durch wen? Wer fühlt sich zuständig für antisemitismuskritische Bildungsarbeit mit Erwachsenen und wer fördert sie?

Führen wir uns vorher antisemitismuskritische Bildungsarbeit noch genauer vor Augen, denn sie eröffnet ein breites Feld für pädagogisches Handeln. Es erstreckt sich von Vorurteilssensibilisierung über zeitgeschichtliche Vermittlungsarbeit bis hin zu kritischer und selbstreflexiver politischer Bildung. Es umfasst sowohl Formate, die den Antisemitismus unmittelbar zum Thema haben als auch Angebote, die breiter gefasst sind, etwa wenn zu Verschwörungsdenken im Allgemeinen gearbeitet wird. Dabei sind jedoch einige Fallstricke zu bedenken.

Irrtümer in der Bildungsarbeit gegen Antisemitismus

Beginnen wir mit einem ersten Irrtum, nämlich jenem rund um die Definition des Antisemitismus. Soziologe Werner Bergmann definiert Antisemitismus „als feindselige Urteile über die Juden als Kollektiv, in denen ihnen unveränderliche schlechte Eigenschaften sowie die Absicht zugeschrieben wird, anderen Völkern Schaden zuzufügen.“ Diese Definition muss durch einen weiteren Aspekt ergänzt werden: Juden und Jüdinnen wird nicht nur die Absicht zugeschrieben, anderen Gruppen Schaden zuzufügen, sondern auch die Fähigkeit beziehungsweise Macht, dies tatsächlich zu tun – deshalb sind Antisemitismus und Verschwörungsdenken auch so eng miteinander verzahnt.

Antisemitismus ist aber nicht nur eine Einstellung gegenüber Juden und Jüdinnen, sondern auch und vor allem eine „Welterklärung“ (Lars Rensmann), also eine Ideologie zur Erklärung abstrakter Verhältnisse und ihrer, vom Subjekt nicht artikulierbaren konkreten Auswirkungen. Es handelt sich beim Antisemitismus um eine spezifische Form der Personifikation (anonymer) gesellschaftlicher Prozesse und Strukturen, die sich leicht zu einem Verschwörungsmythos verdichten kann. Antisemitismus ist eine Ideologie, die sich als eine Einstellung gegenüber Personen, Kollektiven und letztlich auch dem Staat Israel, aber auch als umfangreiche Welterklärung zeigt. Viel zu oft beschränken sich pädagogische Bemühungen, Antisemitismus zu bekämpfen, jedoch auf den Versuch, eine bloße Einstellung, basierend auf „falschem Wissen“, zu korrigieren, häufig durch das Widerlegen von Vorurteilen. Daran ist zunächst nichts falsch, im Fall des Antisemitismus ist dieser Zugang jedoch verkürzt – zu tief ist der Antisemitismus in gesellschaftlichen Strukturen verankert.

Stereotype bleiben hängen

Bereits die Sozialpsychologin Marie Jahoda hat darauf verwiesen, dass beim wohlgemeinten Referieren von Vorurteilen, um diese dann zu widerlegen, häufig primär die Stereotype selbst hängenbleiben. Auch der langjährige Lehrer und Schulbuchanalytiker Wolfgang Geiger hebt dieses Problem hervor, wenn er in Bezug auf die Vermittlungsarbeit zum Antisemitismus feststellt, dass „Vorurteile zwar verurteilt, aber kaum durch Urteile im Sinne einer adäquaten historischen Beurteilung ersetzt“ werden.

Im Versuch, Antisemitismus zu erklären, wird zudem mitunter selbst auf antisemitische Stereotypen zurückgegriffen. Wird der Antisemitismus im Mittelalter behandelt, so wird das christliche Zinsverbot und das Abdrängen von Juden in die Position der Zinsnehmer häufig kontextlos, ohne Einbettung in die sozioökonomische Gesamtsituation, sowie als Alleinerklärung dargestellt. Der mythische Zusammenhang von Juden/Jüdinnen und Geld/Macht wird bestätigt und die Pogrome wirken als verständliche, wenn nicht gar zwangsläufige Reaktion auf den angeblichen „jüdischen Wucher“.

Der Dreischritt „Juden/Jüdinnen – Geld/Macht – Abneigung“ findet sich häufig auch in der Thematisierung der Weltwirtschaftskrise in den 1920er-Jahren und dient hier wiederum als monokausale Erklärung für den erstarkenden, den Weg zur Shoah ebnenden Antisemitismus. Häufig ist eine gänzliche Beschränkung der Beschäftigung mit Antisemitismus auf die Zeitperiode des Nationalsozialismus festzustellen. Es kann dadurch leicht der Eindruck entstehen, Antisemitismus habe es vorher nicht gegeben und er habe heute keine Relevanz mehr. Antisemitismus ohne Nazi-Beiwerk, etwa in Form von Antizionismus, bleibt somit ein unerkanntes Phänomen.

Nahostkonflikt nimmt viel Raum ein

Neben Holocaust-Education werden auch in die Vermittlung von jüdischer Geschichte zu große Erwartungen für die Prävention von Antisemitismus gesetzt. Aber, da Antisemitismus keine realen Begegnungen mit Jüdinnen und Juden, sondern kommunikative Erfahrungen mit Bildern von „Juden“ zur Grundlage hat, ist die Annahme falsch, wonach er in einer bloßen Unkenntnis des Judentums begründet sei. Die Vermittlungsarbeit zu jüdischer Geschichte stellt einen Wert für sich dar und kann der weit verbreiteten Fixierung auf das Bild von Jüdinnen und Juden als Opfer vorbeugen, schützt jedoch nicht per se vor Antisemitismus.

Problematisch ist weiters der Raum, den der Nahostkonflikt im pädagogischen Feld einnimmt. Immer wieder wird umgehend die (verzerrt wahrgenommene) israelische Politik ins Treffen geführt, wenn Shoah, Schuld und Verantwortung oder gegenwärtiger Antisemitismus thematisiert werden. Dies nährt den Verdacht, dass die Thematisierung des Nahostkonflikts primär ein Ausdruck der Abwehr beziehungsweise eine Form der Umwegkommunikation ist. Wenn über den Nahostkonflikt gesprochen wird, sollten zudem ausreichend Faktenwissen und ein differenziertes Verständnis seitens der Pädagoginnen und Pädagogen vorhanden sein. Kritik an der israelischen Politik muss von antisemitischen Ressentiments unterschieden werden können. 

Um bei den Pädagoginnen und Pädagogen zu bleiben: Viel stärker noch wäre das Thema Antisemitismus in die Aus- und Fortbildungen einzubringen. Sieht man sich das Lehrveranstaltungsangebot diverser Hochschulen an, so wird sichtbar, dass die Beschäftigung mit Antisemitismus selbst für angehende Geschichtslehrkräfte optional beziehungsweise auf persönlichem Engagement beruhend bleibt. Fortbildungsangebote mehren sich in Österreich erst in jüngster Zeit. Dabei bräuchte es für gelingende antisemitismuskritische Bildungsarbeit nicht nur Lehrkräfte, die ausreichend Wissen über Antisemitismus haben, sondern auch ihre eigenen Verstrickungen in antisemitische Vorurteilsstrukturen reflektieren. Dies gilt für Schul-Lehrerkräfte und für Erwachsenenbildnerinnen und -bildner gleichermaßen.

Gelingensbedingungen

Antisemitismuskritische Bildungsarbeit sollte mehr als die Vermittlung von jüdischer Geschichte und Holocaust-Education sein. Sie sollte

  • Antisemitismus und seine jeweiligen Funktionen im historischen Längsschnitt thematisieren;
  • verschiedene Formen von Antisemitismus differenzieren;
  • sich einerseits auf individuell-psychische Dispositionen zum Antisemitismus konzentrieren (also einen individuellen Zugang verfolgen);
  • andererseits Antisemitismus als soziales und strukturelles Phänomen, also als gesellschaftliches Machtverhältnis thematisieren (also auch einen strukturellen Zugang verfolgen).

Voraussetzung dafür sind gut ausgebildeten Pädagoginnen und Pädagogen und die Entwicklung einer demokratischen Kultur innerhalb von Bildungseinrichtungen (und anderen Institutionen), in der Antisemitismus erkannt und entschieden entgegengetreten wird. Antisemitismuskritische Bildungsarbeit ist also ein umfassendes Programm mit vielen Voraussetzungen und wird in den Schulen kaum ernsthaft verfolgt, wie sollten dann erst Erwachsene erreicht werden?

Die Krux mit der Erreichbarkeit der Erwachsenen

Nichts spricht dagegen, antisemitismuskritische Bildungsarbeit auch mit Erwachsenen zu betreiben, etwa in der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit, in Trainings in Betrieben, in berufsgruppenspezifischen Fortbildungsangeboten, in Kultur- oder Pensionistenvereinen, in Religionsgemeinschaften und Parteiorganisationen, in Volkshochschulen, Sprachkursen et cetera. Auch wenn Menschen nach ihrer Schulkarriere nicht mehr so leicht zu erreichen sind wie zuvor, so sind sie auch nicht unerreichbar. Derzeit fehlt es in Österreich aber noch an Konzepten, Materialien, Formaten und Förderungen für derartige Bildungsangebote. (Elke Rajal, 27.1.2022)

Elke Rajal ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Soziologie der Universität Passau und FIPU-Mitglied. Ihre Schwerpunkte sind Rechtsextremismus- und Antisemitismusforschung. Ihre Arbeiten setzen dabei besonders an den Schnittstellen von Politik, Gesellschaft, Zeitgeschichte und Bildung an.

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