Die Ukraine und Russland brachten bereits Soldaten in Stellung. Jetzt sollen Gespräche den Konflikt entschärfen.

Foto: EPA / STANISLAV KOZLIUK

Paris/Kiew/Moskau – Erstmals seit Beginn der aktuellen Spannungen um den massiven russischen Truppenaufmarsch nahe der Ukraine kamen offizielle Vertreter beider Konfliktländer zu Gesprächen zusammen. Ein Treffen auf Beraterebene fand am Mittwoch in Paris statt. Auch Frankreich und Deutschland nahmen an der Zusammenkunft im sogenannten Normandie-Format teilnehmen. Wie es aus Élysée-Kreisen hieß, geht es um humanitäre Maßnahmen und Zukunftsüberlegungen zur Ukraine.

Außerdem wolle man ein Datum finden, an dem die Ukraine mit den kremltreuen Separatisten über einen Sonderstatus für die Region Donbass verhandelt. Die Ukraine lehnte dies bisher offiziell ab. Sie sieht Moskau und nicht die Separatisten als Verhandlungspartner.

Auch Russland will sich künftig seine Gesprächspartner genauer aussuchen. Im Unterhaus des russischen Parlaments, der Duma, sagte Außenminister Sergej Lawrow am Mittwoch, dass er die EU und die OSZE nicht mehr am Verhandlungstisch sehe. Das würde die Gespräche nur in die Länge ziehen.

Positive Signale

Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock betonte mit Blick auf die Gespräche im Normandie-Format die Bereitschaft des Westens zu einem "ernsthaften Dialog" mit Russland. Zugleich beschwor die Grünen-Politikerin die Geschlossenheit des Westens. "Unsere stärkste Waffe ist und bleibt unsere Einigkeit", sagt Baerbock vor einem Treffen mit dem niederländischen Außenminister Wopke Hoekstra in Berlin. "Wir müssen den Druck, den wir gemeinsam aufgebaut haben, wirken lassen." Hoekstra betont, eine weitere Aggression Russlands werde ernsthafte Konsequenzen haben.

Das ukrainische Präsidialamt begrüßte die Wiederaufnahme der Gespräche im sogenannten Normandie-Format. Das erste Treffen in dieser Zusammensetzung seit mehr als zwei Jahren sei "ein starkes Signal für die Bereitschaft einer friedlichen Lösung", sagt der Chef des Präsidialamts in Kiew, Andrij Jermak. Er hoffe auf einen konstruktiven Dialog im Sinne der Ukraine.

Truppenübungen in Russland

Westliche Staaten sind besorgt, Russland könne den Konflikt mit einem militärischen Einmarsch in die Ukraine eskalieren lassen. Moskau dementierte derartige Absichten. Doch am Mittwoch ließ Russland mehrere Truppenübungen auf seinem Staatsgebiet abhalten. Mit Panzern, Drohnen und Bodentruppen demonstrierte Moskau dadurch seine Macht. Drei Kriegsschiffe nahmen an einem Manöver mit den chinesischen Streitkräften im Arabischen Meer teil, wie das russische Verteidigungsministerium mitteilte.

Gleichzeitig berichtete die "New York Times", dass Moskau offenbar eine Propagandaoffensive gegen die Ukraine gestartet habe. In sozialen Medien würden vermehrt Falschinformationen gestreut, wonach in den Separatistengebieten im Osten der Ukraine quasi ein Genozid an der russischen Bevölkerung stattfinde. Der staatlich kontrollierte Sender RT teilte einen Clip, in dem Präsident Waldimir Putin sagt, dass die Geschehnisse im Donbass an einen Völkermord erinnern. Laut Quellen aus den US-Geheimdiensten streut Moskau bereits seit 2014 gezielt Falschinformationen über die Ukraine. Doch im Dezember und Jänner verzeichneten sie einen Anstieg der Meldungen.

Sanktionen gegen Putin

Wie die USA hält unterdessen auch die britische Regierung direkte Sanktionen gegen Putin bei einer Invasion in die Ukraine für möglich. "Wir schließen nichts aus", sagte Außenministerin Liz Truss am Mittwoch auf eine entsprechende Frage. Großbritannien könnte sich den USA anschließen. US-Präsident Joe Biden hatte am Dienstag direkte Strafmaßnahmen gegen Putin als denkbar bezeichnet. Ein russischer Einmarsch in die Ukraine wäre "die größte Invasion seit dem Zweiten Weltkrieg" und würde die Welt verändern, sagte Biden.

Der Kreml spielte die Drohungen, Präsident Putin persönlich zu sanktionieren, herunter. Dies wäre politisch zwar destruktiv, für Russland aber nicht schmerzhaft, sagt der Präsidialamtssprecher Dmitri Peskow in Moskau. Zudem hätten die Verantwortlichen in Washington nicht genug Expertise, solche Sanktionen zu verhängen.

Am Mittwoch verlegten die USA laut Angaben des litauischen Verteidigungsministeriums mehrere F-15-Kampfjets auf eine estnische Luftwaffenbasis. Dänemark hat bereits angekündigt, F-16-Jets am Donnerstag nach Litauen zu verlegen.

Sorge wächst

Nach Einschätzung des ukrainischen Außenministers Dmytro Kuleba sei im Konflikt mit Russland alles möglich. "Wir befinden uns buchstäblich in einer Situation, in der alles passieren kann", sagte Kuleba am Dienstag im Interview mit dem Sender CNN. Er könne nicht die Gedanken des russischen Präsidenten Wladimir Putin lesen.

"Wenn Russland bereit ist, ohne Hintergedanken zu handeln, besteht die Möglichkeit, den Verhandlungsraum zu verlassen und zu sagen, dass wir eine Vereinbarung getroffen haben", so Kuleba weiter. Er betonte außerdem, dass sein Land in dem Konflikt nicht einfach den Anweisungen einer Großmacht folgen werde. "Wir werden nicht zulassen, dass uns jemand irgendwelche Zugeständnisse aufzwingt", sagte er weiter.

Am Mittwoch sagte Kuleba laut Reuters, dass es wohl Russlands vordergründiges Ziel sei, Panik zu verbreiten. Denn die russischen Truppen an der Grenze seien nicht zahlreich genug, um eine Offensive gegen die Ukraine zu starten. Das bedeute aber nicht, dass sie das nicht zu einem späteren Zeitpunkt machen könnten.

Mögliche russische Invasion "leider real"

Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP) warnte unterdessen einmal mehr davor, die geplante Ostseepipeline Nord Stream 2, die Gas von Russland nach Europa bringen soll, in mögliche Sanktionen gegen Moskau einzubeziehen. Nord Stream sei "nicht wirklich eine Drohkulisse", sagte Schallenberg am Dienstag in der "ZiB 2". Die Pipeline sei noch nicht einmal in Betrieb. Man müsse auch sicherstellen, "dass die Sanktionen nicht zu einem Bumerang werden". Schallenberg sieht in dieser Frage "enormen Konsens" in der EU.

ORF

Die Drohkulisse einer möglichen russischen Invasion in die Ukraine bezeichnete Schallenberg als "leider Gottes sehr real." Es sei erschreckend, dass man "im Jahr 2022 wieder mit dem realen Risiko einer kriegerischen Auseinandersetzung auf dem europäischen Kontinent rechnen" müsse.

Angesprochen auf das Nahverhältnis der früheren Außenministerin Karin Kneissl (FPÖ) zu Putin sagte Schallenberg: "Als Mann käme ich nicht in Versuchung, mit Putin zu tanzen, und würde es auch nicht tun."

Polen kritisiert Deutschland

Unterdessen hat der polnische Vizeaußenminister Szymon Szynkowski vel Sęk Zweifel an der Verlässlichkeit Deutschlands in der Ukraine-Krise geäußert. "In Polen und in anderen osteuropäischen Ländern fragen sich viele, welches Spiel Deutschland im Ukraine-Konflikt eigentlich spielt", sagte er der Deutschen Presseagentur während eines Besuchs in Berlin. Es gebe Zweifel, ob man auf Deutschland zählen könne.

"Ich würde mir wünschen, dass sich diese Zweifel nicht verstärken, sondern abgebaut werden. Wir brauchen da klare Signale von Deutschland", so der polnische Vize-Außenminister. Konkret forderte er von der deutschen Regierung ein klares Nein zur Inbetriebnahme von Nord Stream 2 und eine schnelle Genehmigung der Lieferung von Haubitzen aus früheren DDR-Beständen aus Estland in die Ukraine. "Wir befinden uns in einer speziellen Situation. Und in einer speziellen Situation sollte man auch zu speziellen Mitteln greifen", sagte er zur deutschen Absage an Waffenlieferungen in die Ukraine. "Und deswegen erwarten wir starke Worte und starke Taten der deutschen Regierung und nicht eine Vernebelung der Tatsachen."

Gas aus Katar

In Sachen Gaslieferungen wollen die USA mit Liefernationen im Mittleren Osten, Nordafrika und Asien verhandeln. So soll das Bedrohungsszenario durch Moskau abgebaut werden, das die Gaslieferungen nach Europa unterbrechen könnte. Am Mittwoch signalisierte bereits Katar, mit Washington über die Pläne verhandeln zu wollen. Emir Tamim bin Hamad Al Thani will kommende Woche mit Präsident Biden zu dem Thema sprechen, um die Kunden Katars von dem Plan zu überzeugen. (red, APA, 26.1.2022)