Verteidiger Andreas Reichenbach (li.) kurz vor dem Beginn des Vergewaltigungsprozesses gegen Hüseyin K. (mi.).

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Wien – Verteidiger Andreas Reichenbach fasst in seinem Schlussplädoyer die Problematik vieler Prozesse um Sexualstraftaten konzis zusammen: "Wir können nur sagen: wir glauben das oder wir glauben das", sagt er zum Schöffengericht unter Vorsitz von Christoph Bauer. Naturgemäß ist Reichenbach der Meinung, dass man seinem Mandanten, dem 42-jährigen Hüseyin K., glauben sollte. Dieser bestreitet vehement, in den frühen Morgenstunden des 29. Oktobers versucht zu haben, eine damals 17-Jährige in einem Park in Wien-Favoriten zu vergewaltigen.

Der sechsfache Vater ist seinen Angaben zufolge arbeitslos und erhält 350 Euro im Monat von einer NGO. "Haben Sie Vorstrafen?", will Vorsitzender Bauer zu Beginn wissen. "Ja, leider", lautet K.s Antwort. "Wie viele?" – "Was ich gerechnet habe, sind es neun." Die Addition ist korrekt, zwischen 1998 und 2019 wurde der Türke unter anderem wegen Delikten nach dem Suchtmittelgesetz, Raubes, Körperverletzung und Widerstands gegen die Staatsgewalt verurteilt, zuletzt saß er 2020 in Haft.

"Ich hab sie wie ein Kind gesehen!"

Sowohl bei seinen polizeilichen Einvernahmen als auch vor Richterinnen sagte K. aus, er habe Frau S. nicht gekannt und nur gefragt, ob er ihr helfen könne, als er sie gegen 5.15 Uhr bei einer Straßenbahnstation in Wien-Favoriten gesehen habe. Nun schildert er seine Sicht der Dinge ausführlicher: S. habe ihn angesprochen und um zehn Euro gefragt. Er habe nur einen 50-Euro-Schein gehabt, man sei ins Gespräch gekommen, S. habe zu weinen begonnen. "Ich habe sie wie ein Kind gesehen! Ich wollte sie nur trösten!", beteuert der Angeklagte.

Drei Stationen sei man gemeinsam mit der Straßenbahn gefahren, danach sei er auf einen Spielplatz in einem Park gegangen, um seine Notdurft zu verrichten. Frau S. habe dann dort gesagt, sie würde Geschlechtsverkehr mit ihm haben – vorausgesetzt, er verwende ein Kondom und gebe ihr seine 50 Euro. K. schildert, er habe abgelehnt, dann sei S. plötzlich aus dem Park gelaufen. Als er ihr nachging, stand sie bei einem Passanten, mit dem es eine kurze Rempelei gab, danach sei er gegangen. Dabei wurde er von einem weiteren Zeugen auf dem E-Scooter verfolgt und fotografiert – als das Bild in den Medien veröffentlicht wurde, ließ K. sich zunächst im türkischen Konsulat rechtlich beraten und stellte sich danach der Polizei.

"Fast wohltätige" Darstellung des Angeklagten

"Ich meine das nicht ironisch oder gar zynisch, aber Ihre Geschichte klingt fast wohltätig", kommentiert Bauer die Schilderung. Denn die Staatsanwältin hat, basierend auf den Aussagen der 17-Jährigen, etwas ganz anderes angeklagt. K. habe die Teenagerin bei der Straßenbahnstation nahe des Parks angesprochen und ihr erklärt, wie hübsch sie sei. Sie ignorierte das, woraufhin er sie in den Park zerrte. Er legte sie auf die Rutsche, fixierte sie mit seinem Körpergewicht, küsste und betatschte sie. Die Frau sagte geistesgegenwärtig, er solle ein Kondom benutzen, worauf K. mit ihr zu einer Tankstelle wollte. Die beiden kamen zu Sturz, S. konnte sich losreißen und auf der Straße einen Passanten alarmieren.

"Haben Sie eine Erklärung dafür, dass Frau S. Sie belastet?", will der Vorsitzende wissen. Hat K. nicht wirklich, dafür verweist er auf das DNA-Gutachten, bei denen auch die genetische Spur einer unbekannten männlichen Person auf der Kleidung von S. gefunden wurden. "Auf der Lippe und der Wange war aber nur eine DNA-Spur: Ihre", hält Bauer ihm vor. "Also, um es zusammenzufassen: Frau S. lügt, da Sie sich geweigert haben, mit ihr um 50 Euro der illegalen Prostitution nachzugehen?", vergewissert sich der Vorsitzende. "Ja", sagt der Angeklagte.

Maske am Tatort verloren

Die Staatsanwältin stellt die zunächst etwas überraschende Frage, wo im Park K. seine Notdurft verrichtete. "Im Gebüsch", lautet die Antwort. "Und wieso wurde Ihre Maske dann bei der Rutsche gefunden?", wundert sich die Anklägerin. K. vermutet, sie müsse ihm unbemerkt beim Schließen der Hose aus der Tasche gefallen sein. Vorsitzenden Bauer interessiert, was K. überhaupt um diese Uhrzeit auf der Straße gemacht habe. Er sei von etwa Mitternacht bis 4.45 Uhr bei Herrn Mustafa in dessen Café gewesen. "Moment, im Aktenvermerk Ihres vorigen Verteidigers steht, es handle sich um ein 'Tischmädchenlokal'?", wendet Bauer ein. "Ich gehe nicht wegen der Damen in das Lokal", versichert der Angeklagte.

Der rettende Passant, der 29-jährige Ramo S., sagt als Zeuge aus, er sei damals auf dem Weg zur Arbeit gewesen, als ihm die 17-Jährige schreiend entgegengelaufen kam. "Hilfe! Hilfe! Er will mich vergewaltigen!", habe sie geschrien, erinnert er sich. Er habe sich schützend vor S. gestellt, da sei auch schon der Angeklagte aus dem Park gekommen. Der sei seinem Eindruck nach alkoholisiert gewesen, was K. bestreitet. Die Rempelei bestätigt der Zeuge, der danach auch die Polizei alarmierte, die fünf bis zehn Minuten später eintraf. Frau S. sei "voll durcheinander" und völlig aufgelöst gewesen.

Die auf Video aufgezeichnete kontradiktorische Einvernahme der Teenagerin wird unter Ausschluss der Öffentlichkeit vorgespielt. Verteidiger Reichenbach beantragt anschließend eine neuerliche Einvernahme von S., da er Widersprüche in ihrer Aussage ortet. Außerdem kritisiert er, dass sein Vorgänger, ein Pflichtverteidiger, keine einzige Frage während der Einvernahme von S. gestellt habe. Der Wunsch wird vom Senat abschlägig beschieden.

"Ich habe eine Ehre"

Der Angeklagte erklärt in seinem Schlusswort: "Ich habe eine Ehre. Was soll ich meinen Kindern sagen, wenn ich wegen solcher Vorwürfe verurteilt werde?" Er schwört neuerlich, S. nichts getan zu haben.

Das Schöffengericht überzeugt er damit nicht. "Es gibt keine Zweifel", begründet der Vorsitzende die Verurteilung zu acht Jahren Haft. Die Aussage von S. sei schlüssig und nachvollziehbar gewesen, die Erzählung von K. dagegen lebensfremd. Der Verteidiger meldet sofort Nichtigkeit und Berufung an, die Staatsanwältin gibt keine Erklärung ab, die Entscheidung ist daher nicht rechtskräftig. (Michael Möseneder, 26.1.2022)