Der Großteil der Menschen kann selbst extreme psychische Belastungen nahezu unendlich lang ertragen, weiß Andreas Maercker, dessen Spezialgebiet die Traumaforschung ist.

Foto: Heribert Corn

Normalerweise als Professor für Psychopathologie und Klinische Intervention an der Universität Zürich tätig, ergründet Andreas Maercker derzeit als Gastforscher an der Universität Wien historische Traumata. Die Corona-Pandemie sieht er als extreme psychische Belastung – und blickt gleichzeitig optimistisch in die Zukunft.

STANDARD: Kommt die Belastung durch die Pandemie in manchen Fällen schon einem Trauma gleich?

Maercker: Zugegeben, es ist eine andauernde und schwere Belastung. Die lange Pandemiedauer macht uns allen schwer zu schaffen, insbesondere Kindern, Jugendlichen und älteren Menschen. Diese Situation bringt uns in sehr unangenehme Zustände. Der Begriff Trauma ist aber für anderes reserviert, auch wenn er sich in der Alltagssprache eingebürgert hat. In der Fachsprache ist er für Dinge reserviert, die mit Lebensgefahr oder mit sexualisierter Gewalt zu tun haben.

STANDARD: Heißt das, in der Diskussion fehlt die Trennschärfe?

Maercker: Es wird ein Begriff benutzt, der zu Recht in den letzten 30 Jahren populär geworden und von daher in aller Munde ist. Natürlich auch, weil es viele Katastrophen mit Lebensgefahr, aber auch viele Fälle sexualisierter Gewalt gibt, die publik wurden. Ich kann verstehen, dass man den Begriff benutzt. Aber warum definieren wir es nicht als schwerste Belastung? Denn die Covid-Zeit ist eine Zeit der schwersten Belastung, auch wenn wir das stunden- oder tageweise nicht so sehen und ein normales Leben führen.

STANDARD: Werden sich die psychischen Schwierigkeiten lösen, wenn die Belastung durch die Pandemie wegfällt, oder uns längerfristig begleiten?

Maercker: Hier möchte ich nochmals verdeutlichen, weshalb wir nicht den Fachbegriff des Traumas verwenden. Typische Traumasymptome sind Albträume oder Flashbackgefühle, und da sehe ich voraus, dass es nach der Pandemie keine Flashbackgefühle geben wird. Bei einigen Menschen werden aber die psychischen Veränderungen bleiben. Etwa wenn sie in Depressionen oder Angstzustände rutschen und darin steckenbleiben. Das kann Sozialangst sein oder Agoraphobie, also eine Abneigung, nach draußen zu gehen.

"Manche würden am liebsten heulen über den Zustand, in dem wir leben." – Andreas Maercker

STANDARD: Was bedeutet das für eine Generation, die in der Pandemie aufwächst, darin sozialisiert wird?

Maercker: Hier kann ich doch eine optimistische Perspektive vermitteln: Man kann wichtige Entwicklungen auch noch nachholen, zumindest die allermeisten können das. Es gibt aber immer wieder kleine Gruppen von Menschen, denen das nur schwer oder nicht gelingt und wo Fördermaßnahmen erforderlich sind.

STANDARD: Wie kann diesen Menschen geholfen werden?

Maercker: Gestern habe ich ein großes Poster für ein Corona-Sorgentelefon gesehen. Das finde ich großartig und möchte denen, die das anbieten, danken. Die Mehrheit von uns, 95 Prozent, wird die Bewältigung hinbekommen. Für fünf Prozent sind solche Angebote aber ganz wichtig.

STANDARD: Gibt es psychische Veränderungen, die sich aktuell besonders gut untersuchen lassen?

Maercker: Ein Beispiel wäre die gedankliche Fixierung an diesen Zustand, in dem wir derzeit leben.

STANDARD: Liegt das allein an der Omnipräsenz des Themas?

Maercker: Es kommt eine große Unsicherheit dazu. Wie lange wird die Pandemie dauern, wird es wieder schlimmer werden? Uns wurden auch schon viele Hoffnungsschimmer gegeben und wieder zerschlagen. Es gibt zu viele Überraschungen und neue Wendungen.

STANDARD: Welche Folgen ergeben sich aus dieser Unberechenbarkeit?

Maercker: Es ist zunächst die starke Belastung. Heute haben die meisten Menschen – ohne Vorerkrankung – mit großer Wahrscheinlichkeit zwar kein Sterberisiko. Aber trotzdem macht es hilflos, diesen Zustand zu erleben, obwohl er nicht mit Lebensgefahr verbunden ist. Das geht einher mit Frustrationsgefühlen, mit Niedergeschlagenheit und Unlustgefühlen. Es gibt Leute, die sagen, dass sie am liebsten heulen würden über den Zustand, in dem wir leben. Das ist ein Indikator dafür, dass das viel mit uns macht.

STANDARD: Wie lange kann der Mensch einer solchen Belastung standhalten?

Maercker: Die meisten von uns können das unendlich lange. Auch wenn man skeptisch ist und denkt, das kriege ich nicht hin. Menschen aus Krisengebieten, aus Kriegs- oder Hungergebieten bezeugen, dass die Psyche sich anpassen kann und trotz alledem Glücksmomente in solchen Belastungssituationen auch noch erfahren werden können.

"Ohne Anerkennung und eine Reparatur von Geschichtsbildern kann manchen Opfergruppen nicht geholfen werden." – Andreas Maercker

STANDARD: Sie verbringen derzeit ein Semester als Gastwissenschafter an der Universität Wien. Womit beschäftigen Sie sich?

Maercker: Ich schreibe an einem Buch, in dem es um historische Traumata, also kollektive Erlebnisse von historischen, menschengemachten Gewaltereignissen, geht. Diese möchte ich über verschiedene Länder und Genozide oder Repressionen vergleichen. Geprägt wurde der Begriff des historischen Traumas von den American Indians. Sie gehen davon aus, dass bestimmte langanhaltende Phänomene, etwa hohe Raten von Alkoholabhängigkeit, von Depressionen oder Demoralisierung, mit ihrer historischen Gewalterfahrung zu tun haben. Das ist ein neuer Impuls für die Traumatheorie und -forschung.

STANDARD: Können Sie uns dazu Einblicke ins Buch geben?

Maercker: Es geht darum, dass für die Wiedergutmachung und Heilung traumatischer Erfahrungen neben einer individuellen Ebene – wie Psychotherapie – auch noch die historische Ebene gebraucht wird. Und dass manche Menschen, die ein kollektives historisches Trauma erlebt haben, wirklich eine Würdigung erfahren für das, was ihrer Gruppe angetan wurde. Ohne diese Anerkennung und eine Reparatur von Geschichtsbildern – so schwierig sie auch zu machen sind, denn wer kann heute in den USA innerhalb der nächsten zehn Jahre den American Indians wieder nachhaltig Gerechtigkeit zukommen lassen – kann manchen Opfergruppen nicht geholfen werden.

STANDARD: Warum ist die Anerkennung so wichtig, was verändert sie für die Betroffenen?

Maercker: Anerkennung wirkt schmerzlindernd. Sie ermöglicht, dass einige dieser psychischen Veränderungen, wie die Fixierung auf das Thema, schwächer werden. Sie bewirkt, dass sich ein Teil der Verbitterung, die Opfer individueller oder historischer Traumen mit sicher herumtragen, löst. Auch das ist etwas Heilendes. (Marlene Erhart, 28.1.2022)