"Wir sehen ein Desaster" – mit diesen Worten hat Kardinal Reinhard Marx am Donnerstag auf das Gutachten über Missbrauchsfälle in seinem Erzbistum München und Freising reagiert. 497 Fälle in den Jahren zwischen 1945 und 2019 hat die Münchner Rechtsanwaltskanzlei Westpfahl Spilker Wastl in ihrem Gutachten aufgelistet, das sie eine Woche zuvor präsentiert hatte – mit der Bemerkung, die Dunkelziffer sei wohl deutlich höher. Von einer "Bilanz des Schreckens" hatte einer der Gutachter gesprochen.

"Ich klebe nicht an meinem Amt", erklärt Kardinal Marx, Erzbischof von München und Freising, und räumte ein, die von Missbrauch Betroffenen übersehen zu haben.
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Wenige Stunden später hatte sich Marx zunächst entschuldigt und sich dann eine Woche lang in das 1700 Seiten umfassende Gutachten vertieft. Er selbst hatte es in Auftrag gegeben, aber den Inhalt bis zur Veröffentlichung auch nicht gekannt.

Sein Fazit nun: "Wir nehmen das Gutachten ernst. Das Gutachten hilft uns, nicht wegzusehen. Das sind wir den Betroffenen schuldig." Er bezeichnete die Auflistung der zahlreichen Missbrauchsfälle durch Kleriker als "tiefen Einschnitt für die Kirche im Erzbistum und für die Kirche darüber hinaus".

Gläubige wüssten nicht mehr, wie sie "den Verantwortlichen in der Kirche trauen" könnten. Und, so Marx: "Wer jetzt noch systemische Ursachen leugnet und einer notwendigen Reform der Kirche in Haltungen und Strukturen entgegentritt, hat die Herausforderung nicht verstanden."

Als erste Konsequenz hat das Erzbistum eine Anlaufstelle für Betroffene eingerichtet. Sechs Psychologen und Psychotherapeuten sind dort tätig. In der ersten Woche haben sich 50 Personen an diese gewandt. Bei der Pressekonferenz am Donnerstag nahm Marx auch zu den Vorwürfen gegen ihn selbst Stellung. Ihm war im Gutachten vorgeworfen worden, in zwei Fällen nichts gegen beschuldigte Kleriker unternommen zu haben.

Betroffene wurden übersehen

"Ich sehe hier vor allem administrative und kommunikative Versäumnisse", sagte er. Seine "größte Schuld" aber sei, "die Betroffenen übersehen zu haben". Marx: "Das ist unverzeihlich. Er werfe sich selbst vor, "nicht wirklich aktiv auf die Betroffenen zugegangen zu sein, ich trage moralische Verantwortung".

Marx hatte Papst Franziskus schon im Sommer wegen der Missbrauchsfälle seinen Rücktritt angeboten. Doch er war im Vatikan auf taube Ohren gestoßen, sein Gesuch damals abgelehnt worden.

"Ich stimme Dir zu, dass wir es mit einer Katastrophe zu tun haben: der traurigen Geschichte des sexuellen Missbrauchs und der Weise, wie die Kirche damit bis vor kurzem umgegangen ist", schrieb der Papst daraufhin in einem Brief an Marx und ermutigte ihn zu Reformen: "Mach weiter, so wie Du es vorschlägst, aber als Erzbischof von München und Freising."

"Ich klebe nicht an meinem Amt"

Jetzt hat Marx nicht noch einmal seinen Rücktritt angeboten. Ein solcher Schritt erschiene ihm "wie ein Aus-dem-Staub-Machen". Allerdings, so Marx: "Ich klebe nicht an meinem Amt." Sollte sich herausstellen, dass er mehr Hindernis als Hilfe bei der Aufklärung sei, werde er sich zurückziehen.

Auf die Frage, welche Reformen Marx in Deutschland auch ohne Weltkirche anstrebe, nannte Marx Frauen in Leitungsfunktionen, die auch sichtbar und mit einer klaren Leitungsverantwortung ausgestattet sein müssten. Die Kirche müsse "die Zeichen der Zeit" verstehen und sich als "lernende Organisation" begreifen.

"Weißer Elefant" im Raum

Nachdem bei der Pressekonferenz bereits 45 Minuten vergangen waren, fragte ein Journalist aus Irland, warum eigentlich niemand über "den weißen Elefanten im Raum" – also den emeritierten Papst Benedikt XVI. – spreche. Laut dem Missbrauchsgutachten hat er in vier Fällen nichts gegen sexuelle Übergriffe von Klerikern unternommen.

Auf den Papst angesprochen, wurde Marx etwas wortkarger. Er meinte, Benedikt habe die Aufklärung "sehr unterstützt durch seine langen Beiträge". Er wies darauf hin, dass der Papst sich "umfassend äußern" werde. Nachsatz: "Das wäre gut. Das würde ich begrüßen."

Kirchenmann lässt Ämter ruhen

Es gibt auch eine erste personelle Konsequenz. Der mächtige Kirchenmann, Prälat Lorenz Wolf, wird seine Ämter ruhen lassen. Er leitet als Offizial das kirchliche Gericht im Erzbistum, ist zudem als Chef des Katholischen Büros Bayern die Schnittstelle zwischen Politik und Kirche und auch noch Vorsitzender des Rundfunkrats.

Der Name des 66-Jährigen taucht im Missbrauchsgutachten von Westpfahl Spilker Wastl vielfach auf. So heißt es, sein Handeln in zwölf von 104 Fällen gebe "Anlass zu Kritik". Die Gutachter kritisieren, dass Wolf "den kirchlichen und priesterlichen Interessen durch sein Handeln deutlich den Vorrang gegenüber den Belangen der Geschädigten eingeräumt hat". Daraufhin hatte es Rücktrittsforderungen an Lorenz Wolf gegeben. (Birgit Baumann aus Berlin, 28.1.2022)