"Mädchen, Frau etc.": Der Bestseller von Bernardine Evaristo erschien 2019 auf Deutsch.

Foto: Jennie Scott

Als Teile der Menschheit insgesamt, der human race, tragen wir die Geschichten unserer Abstammung allesamt in uns, und ich bin neugierig darauf, was meine dazu beigetragen hat, mich zu der Person, der Autorin zu machen, die ich geworden bin. Mir ist klar, dass mir viele Generationen von Menschen vorausgegangen sind, die von einem Land in ein anderes ausgewandert sind, um sich dort ein besseres Leben zu schaffen, Menschen, die über die künstlichen Konstrukte namens Grenzen und die menschengemachten Hürden aus Kultur und Race hinweg geheiratet haben.

Meine englische Mutter lernte meinen nigerianischen Vater 1954 bei einer Commonwealth-Tanzveranstaltung im Zentrum von London kennen. Sie studierte damals an einem von Nonnen geleiteten katholischen College in Kensington, um Lehrerin zu werden; er machte eine Ausbildung zum Schweißer.

Sie heirateten und bekamen in den folgenden zehn Jahren acht Kinder. In meiner Kindheit und Jugend wurde ich als "Mischling" bezeichnet, wie Menschen mit Schwarzen und weißen Wurzeln damals genannt wurden. All diese Kategorisierungen – negro, "farbig", bi- oder multiethnisch, Schwarz, mixed-race, of colour – dienen so lange als akzeptierte Bezeichnungen, bis sie ersetzt werden.

Inzwischen wissen wir, dass "menschliche Rassen" – im Sinn einer biologischen Tatsache – gar nicht existieren und wir als human race 99 Prozent unserer DNA teilen. Unsere Unterschiedlichkeiten sind nicht systematischer Natur, sondern anderen Faktoren wie beispielsweise Umwelteinflüssen geschuldet.

Trotzdem ist "Race" aber gelebte Erfahrung, und ihre Auswirkungen sind daher enorm. Dass wir das Konzept als fiktiv durchschauen, heißt nicht, dass wir auch ohne die Kategorisierungen auskämen, zumindest noch nicht.

Ich wurde hier geboren

Als ich ein Kind war, galt das Konzept "Schwarz und britisch" gemeinhin als Widerspruch in sich. Wer in Großbritannien geboren war, erkannte People of Colour nicht als vollwertige Mitbürgerinnen und Mitbürger an, und diese wiederum orientierten sich häufig an ihren Herkunftsländern.

Mir selbst blieb gar nichts anderes übrig, als mich als Britin zu betrachten. Ich war in diesem Land geboren, hatte mein ganzes Leben hier verbracht, auch wenn mir ständig vermittelt wurde, dass ich nicht so recht hierhergehörte, weil ich nicht weiß war. Aber Nigeria war für mich nur eine ferne Vorstellung, ein Land, aus dem mein Vater stammte, über das ich aber sonst nichts wusste.

Über die mütterliche Seite meiner Familie weiß ich sehr viel mehr als über die väterliche. Vor kurzem erst habe ich herausgefunden, dass sich meine britischen Wurzeln über dreihundert Jahre bis 1703 zurückerstrecken. Es hätte sicher geholfen, das schon als Kind zu wissen, weil ich mich dann zugehöriger gefühlt und die nötige Munition gegen Menschen gehabt hätte, die mich und alle anderen People of Colour damals aufforderten, gefälligst dorthin zurückzugehen, woher wir gekommen waren.

Die Eltern heirateten 1956. Hier das einzige existierende Familienfoto mit allen acht Kindern, Bernardine Evaristo links außen.

Natürlich braucht man keine britischen Wurzeln, um hierherzugehören, und die Vorstellung, dass man es nur tut, wenn man welche hat, darf niemals unwidersprochen bleiben. Bürgerrechte beschränken sich nicht auf Geburtsrechte, und die Sache war schon immer kompliziert, weil viele zwar als "Untertanen" des British Empire galten, aber nie die Auszeichnung der "Staatsbürgerschaft" erhielten.

Mir ist klar, dass DNA-Tests nicht unumstritten sind, weil die verschiedenen Anbieter auf Basis unterschiedlicher Datenbanken zu durchaus unterschiedlichen Ergebnissen kommen, aber mich faszinieren sie trotzdem. Mein Testergebnis von AncestryDNA, das über acht Generationen zurückreicht, offenbart eine ethnische Einschätzung, die meine Wurzeln folgendermaßen beschreibt:

Nigeria: 38 Prozent

"Nigeria: 38 Prozent, Togo: 12 Prozent, England, Nordwesteuropa: 25 Prozent, Schottland: 14 Prozent, Irland: 7 Prozent, Norwegen: 4 Prozent". (Dabei sind Schottland und Norwegen die beiden Länder, mit denen ich keine bekannten Vorfahren verknüpfen kann.) Obwohl ich also vom "Abstammungsmix" her zu gleichen Teilen Schwarz und weiß bin, sehen andere, wenn sie mich anschauen, nur meinen Vater in mir, nicht meine Mutter.

Die Tatsache, dass ich keinen Anspruch auf eine Identität als Weiße erheben könnte, selbst wenn ich das wollte (was ich nicht tue), ist in sich vernunftwidrig und belegt nur einmal mehr, wie absurd das ganze Konzept von "Rassen" tatsächlich ist.

Ich bin 1959 in Eltham geboren und in Woolwich aufgewachsen, beides Bezirke im Süden Londons. Als nicht-weißer Person weiblichen Geschlechts aus der britischen Working Class standen die Grenzen, die mir gesetzt werden würden, bereits fest, bevor ich auch nur den Mund aufsperren und den Schock darüber hinausbrüllen konnte, aus der Fruchtwassergeborgenheit im Bauch meiner Mutter verstoßen zu werden, wo ich neun Monate in traumverlorenem Sinneseinklang mit meiner Schöpferin verbracht hatte.

Meine Zukunft war wenig verheißungsvoll – ich war dazu bestimmt, als Mensch zweiter Klasse gesehen zu werden: unterwürfig, minderwertig, marginal, unerheblich. Eine waschechte Subalterne.

Patriarchale Gesellschaft

Zum Zeitpunkt meiner Geburt zählte das britische Parlament nur 14 weibliche Abgeordnete im Vergleich zu 630 Männern, das Land wurde also zu 97 Prozent von Männern regiert. Wir lebten in einer patriarchalen Gesellschaft. Das ist keine Meinung, sondern eine Tatsache.

Die Stimmen von Frauen und ihre spezifischen Anliegen rund um Mutterschaft, Ehe, Beruf sowie Freiheit hinsichtlich Sex und Verhütung wurden auf politischer Ebene nur selten gehört, und auch sonst gab es im ganzen Land nur wenige Frauen in einflussreichen Führungs- oder Machtpositionen.

Heute ist etwa ein Drittel der britischen Parlamentsabgeordneten weiblich. Ein Jahr nach meiner Geburt verschaffte die Pille Frauen die Freiheit einer größeren Kontrolle über den eigenen Körper, aber es sollte weitere 16 Jahre dauern, bis 1975 neue Gesetze zur gleichen Entlohnung und zur Gleichbehandlung die Diskriminierung von Frauen untersagten.

Man kann also getrost davon ausgehen, dass ich eine Geschichte der zweitrangigen Stellung von Frauen in der Gesellschaft ererbt habe. Meine Mutter, Jahrgang 1933, war in der weiblichen Tradition ihrer Zeit dazu erzogen worden, sich dem Mann, den sie einmal heiraten würde, unterzuordnen und seine Bedürfnisse über ihre eigenen zu stellen.

Tatsächlich gehorchte sie dem gesellschaftlichen Kodex, der von ihr verlangte, sich der Autorität meines Vaters zu beugen, bis in den Siebzigern die zweite Welle der Frauenbewegung diese gesellschaftlichen Überzeugungen anfocht und allmählich veränderte; da fing auch sie an, sich zu behaupten, inspiriert von ihren vier Teenager-Töchtern, die in sehr viel freieren Zeiten erwachsen wurden. Nach 33 Ehejahren machte sie sich schließlich von meinem Vater unabhängig.

Ausländerin und Fremde

Von meinem Vater, einem Einwanderer aus Nigeria, der 1949 an Bord des altgedienten Dampfers Empire Windrush ins Mutterland gekommen war, habe ich eine Hautfarbe geerbt, die festlegte, wie mich das Land, in das ich hineingeboren wurde, künftig wahrnahm: als Ausländerin, Außenseiterin, Fremde.

Zum Zeitpunkt meiner Geburt war es noch nicht verboten, Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe zu diskriminieren, und es sollte noch viele Jahre dauern, bis durch die Race Relations Acts antirassistische Grundsätze in vollem Umfang in der britischen Gesetzgebung verankert wurden, von der ersten Fassung 1965, die öffentlichen Rassismus zur Straftat erklärte, bis zu der von 1976, die das Gesetz schließlich umfassender machte.

Als mein Vater ins Land kam, herrschte dort noch ein weiterer Mythos – der von der Unterlegenheit der Wilden aus Afrika, der seit den Anfängen des imperialen Projekts und des transatlantischen Sklavenhandels kursierte. Mein Vater stammte aus einem Gebiet, das fast ein Jahrhundert lang kolonialen Übergriffen und Eroberungen ausgesetzt war.

Das British Empire bemühte sich nach Kräften, den Mythos aufrechtzuerhalten, es würde barbarische Kulturen zivilisieren, dabei handelte es sich in Wahrheit nur um ein ungeheuer profitables kapitalistisches Unterfangen. So gut dokumentiert und erforscht die Windrush-Generation der ersten Einwanderungen aus der Karibik nach dem Zweiten Weltkrieg ist, so wenig sind es die entsprechenden Erzählungen vom afrikanischen Kontinent. Dabei sind die Ähnlichkeiten zahlreich.

Aufgezwungene Identität

Kaum war mein Vater als junger Mann in Großbritannien eingetroffen, wurde er seines individuellen Selbstbilds brutal beraubt und musste eine aufgezwungene Identität annehmen – als sichtbare Verkörperung einer jahrhundertealten negativen Falschdarstellung.

Großbritannien warb damals Menschen aus den Kolonien an, um die Lücken zu füllen, die die Gefallenen des Zweiten Weltkriegs hinterlassen hatten. Mein Vater war pflichtschuldigst aus seinem Heimatland angereist, wo er ein ganz normaler Mensch gewesen war, aber anstatt als Sohn des Empire willkommen geheißen zu werden, sah er sich mit dem entfesselten Rassismus längst vergangener Zeiten konfrontiert.

Hinzu kam, dass ich in die Niederungen der britischen Klassenhierarchie hineingeboren wurde, ein System, das Lebensqualität und Chancen massiv beeinflusst – und sich bis heute hält, obwohl die soziale Mobilität im Land deutlich zugenommen hat.

Meine Großmutter mütterlicherseits, die wir Nana nannten, war Schneiderin. Der Vater meiner Mutter, Leslie, war Milchmann oder Milchausfahrer, wie es damals noch hieß. Seine Familie hatte früher eine Molkerei besessen. Meine Mutter, das einzige Kind der beiden, besuchte eine katholische Grammar School. Nachdem sie das College abgeschlossen hatte und Lehrerin geworden war, einer der wenigen Berufe, die gebildeten Frauen Anfang der Fünfziger offenstanden, befand sie sich auf dem Weg in die Middle Class.

Umstandslos zurückversetzt

Als sie dann aber einen Afrikaner heiratete, wurde sie umstandslos ans unterste Ende der gesellschaftlichen Leiter zurückversetzt. In gewisser Weise wurde meine Mutter aus ehelichen und, sobald sie Kinder hatte, auch aus biologischen Gründen zur Schwarzen gemacht; zur "Schwarzen ehrenhalber", wenn man so will.

Meine Mutter erzählt immer, sie habe sich, als sie meinen Vater kennenlernte, in sein Wesen verliebt, seine Hautfarbe sei ihr gar nicht aufgefallen. Sie liebte ihn und ihre Kinder, wir waren ihr ganzes Leben. Etwas anderes zählte für sie nicht, erst recht nicht der rassistische Blödsinn Außenstehender, die manche Menschen als weniger menschlich betrachteten.

Bernadine Evaristo 2019 mit der Co-Booker-Prize-Gewinnerin Margarete Atwood.

Mein Vater hatte nigerianische und afrobrasilianische Wurzeln. Seine Zwillingsschwester starb bei der Geburt ihres ersten Kindes, kurz bevor er nach England ging. Außer ihr hatte er noch drei ältere Halbgeschwister: zwei Schwestern, über die ich nichts weiß, und einen Bruder, der 1927 nach Großbritannien ging, sich in Liverpool niederließ, eine Irin heiratete (deren Familie daraufhin für immer mit ihr brach) und drei Töchter bekam.

Nach fünfzig Jahren

Geboren in Französisch-Kamerun wuchs mein Vater in Lagos auf, der damaligen Hauptstadt Nigerias. Sein Vater, Gregorio Bankole Evaristo, gehörte zu denen, die nach dem dortigen, sehr späten Ende der Sklaverei 1888 aus Brasilien nach Westafrika zurückgekehrt waren.

Dass er selbst noch versklavt wurde, halte ich für unwahrscheinlich. In Nigeria arbeitete Gregorio als Zollbeamter, was, wie ich mir vorstelle, ein gewisses Ansehen mit sich brachte, und besaß außerdem ein Haus im brasilianischen Viertel von Lagos.

Als ich Anfang der Neunziger dort war, konnten die heutigen Besitzer mir gar nicht schnell genug den Kaufvertrag präsentieren, den sie mit meiner Großmutter Zenobia geschlossen hatten, weil sie fürchteten, ich wolle Ansprüche darauf anmelden – nach fünfzig Jahren.

Trauer um den Tod der Mutter

Angeblich hat Gregorio Zenobia, seine zweite Frau, im Kloster kennengelernt. Es ist klar, dass sie dort nicht zur Schule ging, weil sie Analphabetin war. Ich verfüge über ein offizielles Dokument, das sie per Daumenabdruck unterzeichnet hat, für mich ein sehr bewegender Anblick – diese körperliche Manifestation ihrer ganz persönlichen Kerben und Linien.

Weil wir sie nicht in Nigeria besucht haben und sie auch nicht nach England gereist ist, habe ich sie nie kennengelernt. Bis heute weiß ich nur wenig über sie und meinen Großvater, der noch vor der Geburt meines Vaters starb. Mein Vater kam in der Beschreibung seiner Mutter nie über den Satz hinaus, sie sei sehr nett gewesen.

Umso kostbarer war mir immer das einzige Foto meiner Großmutter im Familienbesitz. Ich glaube, es wurde in den Zwanzigern aufgenommen, und sie ist darauf sehr herausgeputzt, vielleicht für ihre Hochzeit. Drall, lieb und hübsch sieht sie aus, würdevoll, aber auch sittsam. (Ich hingegen habe nie sittsam ausgesehen. Gott bewahre!)

Korrespondenz mit der Schwiegermutter

Kürzlich bekam ich ein weiteres Foto in die Hände, das meine Großmutter gegen Ende ihres Lebens zeigt, und die Veränderung hat mich verblüfft. Ihr hageres, gequältes, trauriges Altersgesicht zerschlug das verklärte Bild von ihr, das ich jahrzehntelang mit mir herumgetragen hatte.

Zenobia hatte vor rund vierzig Jahren ihren Mann verloren, die Zwillingsschwester meines Vaters war tot, und mein Vater war nach England ausgewandert, ohne ihr etwas davon zu sagen, damit sie nicht versuchen würde, es ihm auszureden, und hatte ihr weder nach seiner Ankunft geschrieben noch überhaupt je.

Vielleicht schämte er sich ja dafür, wie er fortgegangen war. Nachdem er meine Mutter geheiratet hatte, übernahm sie die Korrespondenz mit ihrer Schwiegermutter, die ihr mithilfe eines Schreibers antwortete. Leider offenbaren ihre Briefe nichts darüber, wer sie war und was sie für ein Leben führte.

Als meine Großmutter 1967 starb, erfuhr mein Vater das von jemandem aus dem Umfeld der Familie in Nigeria, der ihm einen Brief schrieb: Ich bin ein Mensch, der seinen Eltern großen Respekt erweist, vor allem meiner Mutter, die mich so gut versorgt hat, als ich klein war, und Ihre verstorbene Mutter hat mir erzählt, Sie wären einfach weggegangen und hätten sich nicht mehr um sie gekümmert oder sich für sie interessiert, das ist wirklich schlimm, und jetzt ist das Ende da, und es tut mir sehr leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Ihre Mutter am 5. verstorben ist und die Beerdigung am 11. stattfinden wird […].

Von Gefühlen überwältigt

Wir Kinder haben unseren strengen, auf eiserne Disziplin bedachten Vater nur ein einziges Mal in Tränen gesehen, und das war der Moment, als er diesen Brief bekam. Wir wurden aus der Küche gescheucht, drängelten uns aber draußen im Garten vor dem Fenster und spähten hinein, um es mit eigenen Augen zu sehen.

Von unerschütterlich zu ungeschützt im Bruchteil einer Sekunde. Wir hatten geglaubt, unser Vater hätte keine Gefühle, und hier hatten wir den Gegenbeweis. Diesmal brachte er nicht uns zum Weinen, sondern litt selbst.

Wenn ich jetzt darüber nachdenke, wird mir klar, dass mein Vater nicht der harte Mensch war, als den wir ihn erlebt haben, sondern einer, der seine Gefühle nicht ausdrücken konnte.

Die Trauer um den Tod seiner Mutter hatte ihn überwältigt – der Verlust, vielleicht auch die Schuldgefühle und das Wissen, dass er sie nie wiedersehen würde. (...) (Bernardine Evaristo, ALBUM, 29.1.2022)