Wertvolles Buch: 2002 wurde ein von Joyce signiertes Exemplar der Erstausgabe des "Ulysses" für 460.500 Dollar versteigert.

Foto: EPA / Phil Noble / Pool

Ein Foto aus dem Jahr 1952 zeigt Marilyn Monroe, wie sie in einem Park auf einem Kinderkarussell sitzt und ein sehr dickes Buch liest. Bei genauerem Hinsehen erkennt man, dass es sich dabei um den Ulysses von James Joyce handelt. Die Fotografin Eve Arnold erzählte, dass das Buch kein bloßes Requisit war, sondern dass sich Monroe ganz bewusst für diesen Roman entschied, um ihrem Image als Sexsymbol etwas entgegenzusetzen.

Das Buch stammte übrigens aus Monroes Bibliothek, in der sich auch Bücher von Dostojewski, Camus, Steinbeck, Hemingway und Kerouac befanden. Im Gegensatz zu vielen Leserinnen und Lesern vor und nach ihr hat sich Marilyn Monroe also von Joyce’ als "schwierig" geltendem Roman nicht abschrecken lassen.

Ganz anders erging es da Joyce’ Frau Nora, die zum Ulysses keinen Zugang fand. Bei ihrem ersten – und einzigen – Lektüreversuch im Jahr 1922 schaffte sie es gerade einmal "bis Seite 27, den Umschlag eingerechnet", wie Joyce verärgert an seine Tante Josephine Murray nach Dublin schrieb.

Man darf aber Nora wegen ihrer gescheiterten Ulysses-Lektüre keinen Vorwurf machen, denn woher hätte sie auch wissen sollen, worum es in diesem monumentalen Werk überhaupt geht? Für die Schriftstellerei ihres Mannes hat sie sich nie besonders interessiert und Joyce hatte wahrscheinlich wenig Lust, ihr nach achtjähriger Arbeit am Ulysses die Handlung in wenigen Sätzen nachzuerzählen.

Viele Schichten

Potenzielle Leserinnen und Leser werden ja immer noch abgeschreckt von den vielen Schichten dieses Romans. Dabei ist gerade die archäologische Arbeit das Faszinierende an diesem Abenteuer Ulysses, wobei es vollkommen gleichgültig ist, wie viele Schichten des Werks man letztendlich freilegt. Wenn man einmal zu graben begonnen hat, kann man ohnehin nicht mehr aufhören.

Einer von Joyce’ Grundsätzen beim Schreiben lautete, "Werk und Leben im selben Gewebe miteinander zu verweben". Da Joyce Zahlenmystiker war – nicht zufällig erschien der Ulysses am 2. 2. 22, dem vierzigsten Geburtstag des Autors – und er auf die Zeremonisierung von Kalendertagen großen Wert legte, war es für ihn selbstverständlich, wichtige Ereignisse in seinem Leben literarisch zu verarbeiten.

Vor diesem Hintergrund kann es also nicht weiter verwundern, dass Joyce eine auf den ersten Blick unbedeutende Episode in den Rang eines Mysteriums erhob, nämlich sein erstes Rendezvous mit dem 20-jährigen Stubenmädchen Nora Barnacle am Donnerstag, den 16. Juni 1904, in Dublin.

Klarer Blick des Künstlers

Joyce war, als er Nora kennenlernte, zwar erst zweiundzwanzig, aber als Dichter bereits so weit sensibilisiert, dass er das poetische Potenzial dieser Begegnung sofort erkannte und Nora ab diesem Zeitpunkt nicht nur mit den – schlechten – Augen eines jungen Mannes, sondern auch mit dem klaren Blick des Künstlers betrachtete. Als Joyce zehn Jahre später in Triest in der Via Donato Bramante Nummer 4 mit der Niederschrift des Ulysses begann, setzte er dieser Begegnung ein Denkmal, indem er seinen Antihelden Leopold Bloom als eine Art Odysseus-Parodie am 16. Juni 1904 durch Dublin wandern lässt.

Was war nun das Besondere an diesem Tag? Zunächst einmal dürfte Joyce in sexueller Hinsicht von Noras direktem Zugriff begeistert gewesen sein, denn noch Jahre später erinnerte er sich in einem Brief daran, dass ihm Nora an diesem Abend in Ringsend "langsam einen runterholte", bis er sich zwischen ihren Fingern ergoss. Im letzten Kapitel des Ulysses, dem berühmten inneren Monolog der Molly Bloom, hat Joyce dieses Erlebnis aus Mollys (also Noras) Sicht noch einmal genauestens beschrieben.

Sexuelle Detailaufnahmen dieser Art, von denen es im Ulysses viele gibt, waren einer der Gründe, weshalb der Roman in Großbritannien und den USA mehr als zehn Jahre lang verboten war. Aber nicht nur englische und amerikanische Richter vertraten die Ansicht, das Buch sei "pornografisch", auch Schriftstellerkollegen wie D. H. Lawrence ließen an Joyce’ Roman kein gutes Haar. Letzterer bezeichnete das Molly-Bloom-Kapitel als "das dreckigste, unanständigste und obszönste Zeug, das je geschrieben worden ist", und Virginia Woolf qualifizierte das Buch generell als "primitiv und ungebildet" ab.

Alltagsgeschichte

Am 16. Juni 1904 wird also der 38-jährige Annoncenakquisiteur Leopold Bloom von seinem Autor James Joyce durch Dublin geschickt und erlebt dabei wenig Aufregendes. Für Bloom beginnt der 16. Juni 1904 um acht Uhr in der Früh mit einer angebrannten Schweinsniere, obwohl er lieber eine Hammelniere gehabt hätte, die es aber in der Metzgerei Dlugacz nicht mehr gab.

Anschließend entleert er seinen Darm auf dem Plumpsklo im Garten des Hauses Eccles Street Nummer 7, geht auf ein Begräbnis, besucht kurz seinen Arbeitsplatz, isst bei "Davy Byrne" ein Gorgonzola-Sandwich, trinkt dazu ein Glas Burgunder, onaniert am Strand von Sandymount, trifft in der Nachtstadt, dem Bordellviertel Dublins, auf einen gewissen Stephen Dedalus und wankt spät in der Nacht nach Hause, wo seine Frau Molly bereits im Bett liegt und im Halbschlaf über Gott und die Welt nachdenkt.

Und für diese Geschichte braucht Joyce 1000 Seiten? Um mit einem Schlüsselwort des Romans zu antworten: "Yes". Dieses Wort kommt übrigens alleine in der letzten Episode des Ulysses, dem berühmten "inneren Monolog" der Molly Bloom, 91-mal vor!

Eine Teilantwort auf die Frage, weshalb Joyce für diese auf den ersten Blick banale Alltagsgeschichte so viel Platz braucht, liefert der Titel des Buchs: Ulysses, was nichts anderes ist als die englische Übersetzung des lateinischen Namens des griechischen Helden Odysseus. Allerdings, und das macht die Sache auch nicht wirklich einfacher, kommt der Name des Titelhelden im ganzen Roman kein einziges Mal vor.

Wilde Mischung

Mit seiner Entscheidung, den Roman Ulysses – und nicht etwa "Bloom" – zu nennen, wollte Joyce die Leserinnen und Leser nachdrücklich daran erinnern, dass es in seinem Buch um mehr geht als um die Biografie der drei Protagonisten Leopold Bloom, dessen Frau Molly und Stephen Dedalus. Joyce benutzt diese drei Figuren quasi als Transportmittel für eine Reise durch Raum und Zeit, Geschichte und Mythologie, Erhabenheit und Lächerlichkeit, Kunst und Kalauer.

Diese wilde Mischung ist es auch, die den Ulysses zu einer einfachen und zugleich schwierigen Lektüre macht. Einfach zu lesen ist der Roman dort, wo er in das Alltagsleben Dublins eintaucht und die Leserin und den Leser mitnimmt in die Pubs, Kirchen, Toiletten, Bordelle, Krankenhäuser, Friedhöfe, Bibliotheken und Betten der irischen Hauptstadt. Schwierig wird die Angelegenheit allerdings, sobald Joyce zu improvisieren beginnt und Spuren legt, die sich nicht selten im Gestrüpp wildwuchernder Assoziationsketten verlieren.

Diese Passagen haben ganze Generationen von Leserinnen und Lesern eingeschüchtert und den Ulysses schließlich zum bekanntesten nicht gelesenen Buch der Weltliteratur gemacht. Für Menschen, die seinen Roman nicht lesen wollten oder konnten, hatte Joyce freilich wenig Verständnis und entgegnete ihnen: "Wenn man den Ulysses nicht lesen kann, kann man das Leben nicht leben."

Katastrophen

Dabei schienen sich mit dem Ulysses sämtliche Katastrophen zu wiederholen, die Joyce bereits von seinen anderen Büchern kannte. Verleger zögerten, vertrösteten und äußerten so lange Bedenken, bis Joyce befürchtete, der Roman werde nie erscheinen.

In dieser Situation zeigte die Betreiberin der Pariser Buchhandlung "Shakespeare and Company", Sylvia Beach, Mut und Weitsicht, indem sie entschied, den Roman am 2. 2. 1922 in einer Auflage von 1000 Stück im Eigenverlag herauszubringen.

Die ersten Kritiken waren vernichtend, und Joyce wurde als "pervertierter Irrer" beschimpft, der "Latrinenliteratur" produziere, die so schlecht sei, dass sie selbst "einem Hottentotten Brechreiz verursachen würde". Der Rest ist Literaturgeschichte.

2002 wurde bei Christie’s übrigens ein von James Joyce signiertes Exemplar der Erstausgabe des Ulysses um 460.500 Dollar versteigert. (Kurt Palm, ALBUM, 29.1.2022)