Das Münchner Missbrauchsgutachten hat den emeritierten Papst Benedikt XVI. belastet.

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Aschaffenburg/Würzburg/München – Eine katholische Kirchengemeinde im deutschen Aschaffenburg setzt als Konsequenz des Missbrauchsskandals für die kommenden drei Wochen ihre Sonntagsgottesdienste aus. Stattdessen wolle man an den Sonntagen Erzählungen von Betroffenen hören, aus dem Münchner Missbrauchsgutachen lesen und schweigen, heißt es in einem Brief an den Würzburger Bischof Franz Jung laut Kathpress.

Außerdem soll Geld für den Betroffenenbeirat der Deutschen Bischofskonferenz gesammelt werden. Nicht nur das unsägliche Leid, das so viele Menschen durch Priester, Bischöfe und Generalvikare erfahren hätten, schockiere, so die Gemeinde. "Was uns besonders erschüttert, ist der Verrat an Opfern, am Evangelium und der eigenen Verantwortung." Außerdem ist in dem Brief von einem Mangel an Einsicht und Handeln die Rede. Man wolle das "unerträgliche 'Weiter so' wenigstens punktuell" unterbrechen. Der Brief ist unter anderem auch vom örtlichen Pfarrer unterschrieben.

Kritik der Diözese

In der Leitung der Diözese Würzburg stieß die Ankündigung auf Kritik. Die Solidaritätsaktion sei grundsätzlich unterstützenswert, sagte Generalvikar Jürgen Vorndran am Freitag. Aber es sei nicht richtig, dafür drei Wochen lang keine Sonntagsmesse zu feiern. Man hinterfrage als Diözesanleitung das Vorgehen sehr stark, "denn die Eucharistie sollte ein Raum sein, der frei ist von jeder Instrumentalisierung". Die Eucharistiefeier, in der an das Letzte Abendmahl Jesu mit seinen Aposteln erinnert und der gekreuzigte und auferstandene Christus gegenwärtig gesetzt wird, sei eine Selbstverständlichkeit der christlichen Gemeinde. Man bitte darum, vor Ort noch einmal über die Aktion nachzudenken.

Das Gutachten

Die Münchner Rechtsanwaltskanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW) hatte am 20. Jänner im Auftrag der Erzdiözese München und Freising ein Gutachten zum Umgang mit Missbrauchsfällen in der Diözese zwischen 1945 und 2019 vorgelegt. Dieses war gegenüber der Diözesanführung sehr kritisch und warf mehreren Erzbischöfen, darunter auch dem amtierenden Diözesanoberhaupt Reinhard Marx, Versäumnisse und Untätigkeit vor.

Besonderes Aufsehen erregten dabei die Vorwürfe des Gutachtens gegen den emeritierten Papst Benedikt XVI., der von 1977 bis 1982 Erzbischof von München gewesen war. Insbesondere ging es dabei um die Frage, ob Ratzinger 1980 in die Entscheidung um die Einsetzung des aus der Diözese Essen stammenden Missbrauchstäters Peter H. in der Seelsorge direkt involviert war. Während Benedikt in einer den Gutachtern abgegebenen Stellungnahme behauptete, er sei bei der entscheidenden Sitzung nicht dabei gewesen, wies die Kanzlei durch Vorlage des Sitzungsprotokolls nach, dass der Erzbischof sehr wohl anwesend gewesen war. Der 94-jährige Benedikt, der seit seinem Amtsverzicht 2013 zurückgezogen im Vatikan lebt, korrigierte daraufhin im Nachhinein seine Aussage.

Schönborn meldete sich zu Wort

Am Freitag haben auch österreichische Geistliche zu den Vorwürfen gegen Benedikt Stellung genommen. Der Wiener Kardinal Christoph Schönborn wies darauf hin, dass im Fall der Missbrauchsvorwürfe gegen den Wiener Erzbischof Kardinal Hans-Hermann Groer 1995 der damalige Kardinal Joseph Ratzinger ein entschiedenes Vorgehen gefordert hätte: "Im Fall meines Vorgängers war Kardinal Ratzinger in Rom unsere Stütze", sagte er auf Ö1.

Bezüglich des in der Vorwoche veröffentlichten Gutachtens über den Umgang mit Missbrauchsfällen in der Erzdiözese München und Freising betonte der Erzbischof von Wien: "Ich glaube, was jetzt notwendig ist, ist die Umsetzung in die Praxis. Das ist ein Rechtsgutachten, keine Handlungsanweisung." Das Wichtigste sei die Prävention. Insgesamt gab sich Schönborn bezüglich des künftigen Umgangs mit Missbrauchsfällen in der Kirche zuversichtlich: "Ich glaube sagen zu können, es wird nicht mehr vertuscht werden. Es darf nicht mehr vertuscht werden."

Heiligenkreuzer Abt verteidigt Benedikt XVI. gegen "Feindseligkeit"

Der Heiligenkreuzer Abt Maximilian Heim verteidigte Benedikt XVI. indes gegen die "sprungbereite Feindseligkeit", die dem emeritierten Papst nach dem Missbrauchsgutachten entgegenschlage. Die Debatte um ein mögliches Fehlverhalten von Joseph Ratzinger als Erzbischof von München und Freising habe "mich und viele andere in der Kirche erschüttert und wegen ihrer von vielen empfundenen Einseitigkeit befremdet", sagte der Zisterzienser dem deutschen Wochenblatt "Die Tagespost".

Benedikt als Lügner, "nur auf den Schutz der Kirche bedachten Kirchenfürsten" oder gar als "Verbrecher gegen die Menschlichkeit" darzustellen, könne er sich aufgrund seiner persönlichen Erfahrung mit dem nun Beschuldigten "überhaupt nicht vorstellen", erklärte Heim gegenüber der katholischen Zeitung laut Kathpress. Der Abt des Zisterzienserklosters im Wienerwald ist zugleich Großkanzler der Philosophisch-Theologischen Hochschule Benedikt XVI. Heiligenkreuz, erster Preisträger des Ratzinger-Preises und Mitglied des Jüngeren Ratzinger-Schülerkreises.

Ratzinger als "Vorreiter" im Kampf gegen Missbrauch

Diesen persönlichen Eindruck von der Person Ratzingers untermauerte der Abt mit dem Hinweis auf dessen Verdienste im Kampf gegen Missbrauch in der Kirche: Als Präfekt der Glaubenskongregation sei Ratzinger noch zur Zeit von Papst Johannes Paul II. hier "der Vorreiter" gewesen, der sich für kirchenrechtliche Möglichkeiten ein- und diese dann auch durchgesetzt habe, Priester wegen des sexuellen Missbrauchs als schwerwiegende Straftaten (delicta graviora) aus dem Klerikerstand zu entlassen. Er habe im Auftrag des Papstes den Bischöfen weltweit das Thema des Missbrauchs entzogen, "das heißt, er hat sie, manchmal zu deren Ärger, angewiesen, solche Fälle nach Rom in seine Behörde zu melden, um Missbrauch vor Ort effektiver zu bekämpfen und ortskirchliche Vertuschungen zu vermeiden", sagte Heim.

Als Papst hatte Ratzinger 2010 die Verjährungsfrist für die kirchenrechtliche Ahndung verlängert und "den längst fälligen Perspektivenwechsel eingeleitet, dass nicht die straffälligen Priester zu schützen sind, sondern die Opfer im Mittelpunkt der Hilfe und Aufklärung stehen müssen", so Abt Heim weiter. Auch bei seinen Reisen habe der Papst diesen seine besondere Aufmerksamkeit geschenkt. An die von Missbrauchsskandalen ganz besonders erschütterte Ortskirche in Irland habe Benedikt einen "aufwühlenden Brief" gerichtet – und damit auch an die katholische Kirche weltweit. Heim erinnerte auch daran, dass die "sonst für ihre Kirchennähe nicht gerade bekannte" Berliner "taz" anerkannte, dass Benedikt 2011 und 2012 Hunderte von Priestern wegen Missbrauchsvorwürfen abberief und laisierte.

Heims Fazit: "Es ist mir unverständlich, wie manche ihm unterstellen, dieses Thema verdrängt oder verleugnet zu haben." Manche Verantwortungsträger in der Kirche, die nun "sehr bereit und wohlfeil" das Verhalten des damaligen Präfekten und späteren Papstes kritisieren, sollten sich laut dem Abt selbstkritisch fragen, ob sie beim Thema Missbrauch Ähnliches leisteten.

Heim: "Auch Päpste sind Menschen"

"Auch Päpste sind Menschen", räumte der Ordensmann ein. "Sie sind wie wir alle in der Kirche Sünder." Auch die "Unfehlbarkeit", die dem Papst als der letzten Instanz der Glaubensverkündigung zugeschrieben wurde, meine nicht eine kognitive Irrtumslosigkeit, ein Freisein von Fehlern in der Erinnerung oder eine moralische Sündenlosigkeit, erklärte der versierte Theologe. Fehler in Bezug auf die Erinnerung an einen Termin oder an eine Gegebenheit vor mehreren Jahrzehnten seien somit durchaus denkbar, so Heim.

Es tue ihm von Herzen leid, so Abt Heim abschließend, dass sich der fast 95-jährige, gesundheitlich angeschlagene, aber immer noch geistig frische emeritierte Papst Benedikt XVI. in dieser Phase seines Lebens gerade in seinem Heimatland "für den Missbrauch entschuldigen muss, für dessen Aufklärung er sich Zeit seines Lebens intensiv eingesetzt hat". (APA, red, 28.1.2022)