Wie können wir mehr Gendergerechtigkeit erreichen? Diese Frage stellen sich wohl viele von uns. Denn auch im Jahr 2022 sind wir von gleichen Chancen für alle Geschlechter am Arbeitsmarkt weit entfernt.

Eine Antwort darauf will das Tool #GetGenderOnTheAgenda geben. Führungspersonen sollen damit in sogenannten Mikro-Lerneinheiten Inhalte vermittelt werden, die sie zur Weiterentwicklung in Richtung gendersensible Führungskraft befähigen, heißt es auf der Website. Entwickelt wurde die Lern-App von der Unternehmensberatung rund um Genderexpertin Marita Haas und Ovos Media, eine auf interaktive Wissensvermittlung spezialisierte Agentur. DER STANDARD wurde dazu eingeladen, das Gendertool kostenlos zu testen.

Wissensvermittlung

Der Einstieg beginnt mit einer Frage: Welchen Anspruch stellen die Entwicklerinnen und Entwickler an das Tool? Die Antwort kommt in Form einer Videobotschaft von Genderexpertin Haas. Ziel sei es, dass Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger danach wissen, wie sie sich im Alltag gendersensibel verhalten, und ihre Haltung gegenüber relevanten Themen reflektieren. Die klare Botschaft dahinter: "Gender ist eine Leadership-Aufgabe."

Neben vielen Anglizismen finden sich in der Lern-App unterschiedliche Kartendecks, die die User zum Durchklicken beziehungsweise Swipen einladen sollen. Das Intro besteht aus drei Decks, die Fragen rund um das Gendertool erklären und zeigen, wie es funktioniert. Vor allem auf die spielerische und interaktive Komponente habe man laut den Entwicklerinnen und Entwicklern großen Wert gelegt. Beispielsweise können einzelne Karten umgedreht werden, um weitere Informationen zu erhalten, oder bei Fragen zwischen verschiedenen Antwortmöglichkeiten gewählt werden.

Zum Einstieg werden Fragen rund um das Gendertool beantwortet.
Foto: Screenshot

Nach dem Intro zum Tool geht es mit einer Einführung in die Thematik weiter. Es folgen Zahlen und Fakten zum Thema Gender – mit Verweis darauf, wie wenige Daten es abseits des binären Geschlechtersystems, also männlich und weiblich, gibt.

Zugegeben, neu sind die Informationen in diesem Abschnitt für viele wohl nicht. Dass der einen oder dem anderen die hohe Teilzeitquote unter Frauen, der Gender-Pay-Gap oder die geringe Anzahl weiblicher Topmanager altbekannt erscheinen, mag aber auch daran liegen, dass sich seit Jahren nur wenig bei diesen Themen verändert hat. Außerdem holt das Tool dadurch alle Teilnehmenden ab – unabhängig von ihrem bisherigen Wissensstand.

Und mal ehrlich: Wissen Sie aus dem Stegreif, wie viele Frauen in Österreich in Teilzeit beschäftigt sind? Sind es 20 Prozent, jede Dritte oder sogar jede Zweite? Und wie ist es in Ihrem Unternehmen?

Gendermythen entlarven

An diesem Punkt knüpft auch die folgende Lerneinheit an: die Rolle der (eigenen) Organisation. Es steht natürlich außer Frage, dass eine einzelne Führungskraft nicht die ungleichen und ungerechten Strukturen der ganzen Arbeitswelt verändern kann. Den eigenen Wirkungsbereich in der Position als Entscheidungsträgerin oder Entscheidungsträger gilt es jedoch laut dem Tool nicht zu unterschätzen. Schließlich kann jede Führungskraft dazu beitragen, die Arbeitsbedingungen im eigenen Betrieb gerechter zu gestalten.

Davon bestärkt, sollen nun im nächsten Schritt Gendermythen entlarvt werden. Denn auch sie tragen zur Ungleichheit in der Arbeitswelt bei – auch wenn manche von ihnen auf den ersten Blick sogar neutral bis positiv klingen können. Ein Beispiel: "Frauen müssen gefördert werden." Was an der Aussage nicht stimmt? Die App verrät, dahinter stecken gleich mehrere falsche Annahmen. Erstens: Frauen müssen gestärkt werden, weil sie etwas weniger gut können als Männer. Zweitens: Alle Frauen sind gleich – und alle Männer auch. Und drittens: Die bestehende, maskuline Norm dient als Orientierung. Die Lösung? Ein anderer Ansatz: Organisationen müssen gefördert werden.

Unterschiedliche Szenarien

Bis auf ein paar Reflexionsübungen und den Vorsatz, künftig stärker auf bestimmte Aspekte achten zu wollen, kommt man als Nutzerin bislang aber noch nicht in den Handlungsmodus. Daran sollen die nächsten fünf Lerneinheiten etwas ändern. Neben Input und konkreten Tipps für gendersensible Sprache und Meetings gibt es zwei sehr umfangreiche Pakete zu Sexismusvermeidung im Arbeitsalltag und gendersensiblen Arbeitszeiten.

Beide Schwerpunkte werden anhand von Fallbeispielen aufgearbeitet. Einmal begleiten wir eine Firma von der Gründung bis zur Expansionsphase und sollen daraus Handlungsoptionen für unser eigenes Unternehmen ableiten. Dass die meisten Firmen wohl nicht so bald die 30-Stunden-Woche für alle anbieten werden, scheinen die Tool-Entwicklerinnen und -Entwickler zu ahnen. Als Alternativen zum klassischen Nine-to-five im Büro werden Gleitzeit und Homeoffice genannt. Corona-bedingt ist diese Flexibilisierung von Arbeitszeit und -ort bereits jetzt in vielen Firmen keine Seltenheit mehr.

Das zweite große Lernpaket rund um Sexismusvermeidung besteht aus drei Szenarien, die jeweils übergriffiges Verhalten in unterschiedlichen Konstellationen abbilden. Was, wenn die belästigende Person auch meine Führungskraft ist, ein Kunde oder eine Beschäftigte auf gleicher Hierarchieebene? Und wie kann man Betroffenen wirklich helfen?

All diese Fragen werden im Verlauf der Szenarien beantwortet. Neben Lösungsansätzen für den Umgang mit sexueller Belästigung am Arbeitsplatz werden auch Maßnahmen vermittelt, die präventiv wirken und dabei helfen können, ein sicheres Arbeitsumfeld zu schaffen.

Fazit

Etwa zweieinhalb Stunden nimmt es in Anspruch, wenn die Lerneinheiten am Stück konsumiert werden. Preislich liegt das Tool bei 249 Euro pro Führungskraft und Jahr. Wenn die Themenblöcke erfolgreich absolviert sind, besteht außerdem die Möglichkeit, alle Reflexionsübungen, Videos und Handlungsempfehlungen gesammelt durchzugehen.

Zurück zum Anfang: Hält das Gendertool, was es verspricht? Die Antwort hängt wohl von der Person ab, die es nutzt. Es werden unterschiedliche Stellschrauben aufgezeigt, an denen Führungskräfte und Organisationen drehen können. Durch das Online-Setting kann und soll immer wieder auf die Ressourcen des Tools zurückgegriffen werden. Das macht deutlich: Gendergerechtigkeit kann nicht durch das einmalige Durchlaufen von Lerneinheiten erreicht werden, sondern bleibt ein Lernprozess. (Anika Dang, 1.2.2022)