Der Soziologe Natan Sznaider schreibt in seinem Gastkommentar über die Antisemitismusvorwürfe bei der kommenden Documenta in Kassel und ordnet diese ein.

Es ist wieder so weit in Deutschland, der Skandal ist schon vorprogrammiert fünf Monate vor Eröffnung der Documenta 15 im Juni 2022. Aber worum geht es dabei?

Die Documenta ist eine der bedeutendsten Kunstausstellungen in Deutschland. Daher mag es nicht verwunderlich sein, dass auch diese Ausstellung mit dem Zeitgeist gehen muss. Das heißt nun so viel, dass ein Künstlerkollektiv aus Indonesien, die Gruppe Ruangrupa, damit beauftragt wurde, die Ausstellung zu bewerkstelligen. Aktivisten aus dem Globalen Süden, die innerhalb eines kulturpolitischen Milieus zur neuen Hegemonie werden, lösen die alten weißen Männer und Frauen ab, die nicht nur in der Kunst genug gesagt haben. So weit, so der Zeitgeist. Und wenn sich der Kulturbetrieb zum Süden hin öffnet, ist dagegen natürlich nichts einzuwenden. Aber diese Öffnung wird mit einer Schließung in andere Richtungen bezahlt.

Die Großausstellung für zeitgenössische Kunst in Kassel, die Documenta, wird offiziell erst im Juni eröffnet. Heftig debattiert wird jetzt schon.
Foto: Imago Images / epd / Andreas Fischer

Künstlerkollektive wie die Ruangrupa kennen die deutsche Situation, Geschichte und Verantwortung nicht und wollen sie auch nicht kennen. Das ist nicht ihr Anliegen. Als kulturelle Akteure des Globalen Südens stehen sie in der postkolonialistischen Tradition, dem Suchen nach dem Wirken und Nachwirken kolonialer Herrschaft. Das schließt den arabischen-palästinensischen Kampf gegen Israel mit ein. Daher ist es nicht überraschend, dass ein palästinensisches Künstlerkollektiv, The Question of Funding, an der Documenta teilnehmen wird. Diesem Kollektiv, wie anderen an der Documenta beteiligten Künstlern und Kuratoren, wird auch Nähe zu der zum Boykott gegen Israel aufrufenden BDS-Bewegung vorgeworfen. Damit steht auch der Vorwurf des Antisemitismus wieder im Raum.

Die Documenta muss sich also mit unüberwindbaren Gegensätzen beschäftigen. Einerseits deutscher Schuld und Verantwortung für die Verbrechen der Nazis und ihrer Verbündeten, was dann auch die Solidarität mit Israel bedingte, also ein "Nie wieder Holocaust", andererseits einem postkolonialen "Nie wieder Kolonialismus", was dann auch Israel selbst als einen ungerechten kolonialistischen Staat beschreibt. Gerade die Kunst versucht sich in den letzten Jahren mit diesem neuen Zeitgeist zu verknüpfen. Wenn das in Deutschland geschieht, dann sind die unüberbrückbaren Konflikte miteingebaut. Das Resultat sind gegenseitige Vorwürfe, die von der anderen Seite nicht verstanden werden wollen.

Politischer Raum

Für die postkolonialistische Kunst wird das Exil als ein ästhetischer Ausgangspunkt betrachtet, von dem aus man die Wahrheit erkennt. Widerspruch ist da sinnlos. Exil ist aber nicht nur Freiheit, sondern auch ein politischer Raum, wo man handeln muss. Für eine europäische Kulturelite, die behaglich und sicher in ihrem Heim lebt, ist das Kokettieren mit Postkolonialismus ein Luxus, den sich die meisten kolonisierten Menschen gar nicht erlauben können. Auch die Juden nicht. Das ist auch der Grund, warum Israel als Staat und Israel als Idee genau im Brennpunkt dieser Debatten stehen.

Israel kann daher als eine weiße europäische Formation betrachtet werden, die in kolonialistischer Weise den arabischen Raum eroberte. Israel ist aber auch gleichzeitig ein Projekt der Befreiung der Juden, die in und außerhalb Europas von den "einheimischen" Menschen unterdrückt, verfolgt und auch ermordet wurden. Genau dies bringt auf den Punkt, woraus sich die Israelskepsis heute speist. Wie ist es möglich, dass das Bild Israels, das ins Leben gerufen wird, bei vielen Menschen zwischen Pflichtjubel und Feindbild oszilliert? Wird das Spektrum von wohlwollender Gleichgültigkeit und offener, manchmal hassvoller Ablehnung ausreichen, um die absehbaren Brüche und Zusammenbrüche zwischen großen Teilen der Welt und Israel aufzufangen? Können diese Gegensätze überhaupt überwunden werden, und was kann Kunst dafür leisten?

"Nicht um das Rechthaben soll es den Documenta-Machern und ihren Kritikern gehen, nicht um den Antisemitismus-Vorwurf und seine empörte Zurückweisung, sondern um ein illusionsfreies Konfrontieren der Antagonismen im öffentlichen Kulturraum."

Direkter und schärfer gefragt: Gibt es überhaupt eine Wirklichkeit, die den Titel "Israel" verdient, oder ist das nur ein Wunschbegriff für eine Unwirklichkeit, die keiner kritischen Befragung standhält? Welche Projektionsbilder verbergen sich hinter dem, was Israel heißt? Und wenn es wirklich Projektionsbilder sind, dann werden die Fragen der Einstellung gegenüber Israel komplexer, als sie vielleicht im ersten Moment für die Documenta-Macher aussehen. Ein Schritt nach vorne wäre also eine postkritische Kunst, die das Entweder-oder durch ein Sowohl-als-auch ersetzt und die sich jenseits der üblichen Kritik nach neuer Aufklärung bemüht.

Nicht um das Rechthaben soll es den Documenta-Machern und ihren Kritikern gehen, nicht um den Antisemitismus-Vorwurf und seine empörte Zurückweisung, sondern um ein illusionsfreies Konfrontieren der Antagonismen im öffentlichen Kulturraum. Man kann Konflikte nicht einfach wegdenken. Gewaltgeschichten trennen Menschen voneinander. Oft ist Dialog nicht möglich, sondern nur Einsicht in die Tragik der eigenen Geschichte.

Kollektive Geschichten

Den Documenta-Machern und nicht nur ihnen wäre geraten zu erkennen, dass das Gesicht der Tragödie auch das Gesicht ihrer Kritiker sein könnte. Eine postkritische Kunst würde sich bewusst sein, dass traumatische Vergangenheiten sich nicht mehr ändern lassen, will aber gleichzeitig die Zukunft dieser traumatischen Vergangenheiten verhindern. Wir tragen persönliche, familiäre und kollektive Geschichten in uns selbst, und es sind genau diese Geschichten, die am Ende unsere politischen Leidenschaften prägen. Dies könnten Möglichkeitsräume einer Documenta für alle öffnen. (Natan Sznaider, 30.1.2022)