Julian Hessenthaler auf dem Weg zu seiner Verhandlung: Für einige ist er ein Held, andere nehmen ihm redliche Motive nicht ab.

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Der Mann, der den Lauf der österreichischen Geschichte verändert hat, arbeitet in der Gefängniswäscherei. "Ansonsten ist man eingesperrt", erzählt Julian Hessenthaler. Für die einen, die Betroffenen seines Ibiza-Videos und die Sympathisanten der türkis-blauen Koalition, ist Hessenthaler dort, wo er hingehört. Für die anderen steht er in einer Reihe mit verfolgten Whistleblowern wie Edward Snowden oder Julian Assange.

Unbestritten ist hingegen der Einfluss des Ibiza-Videos auf die österreichische Politik. Es führte nicht nur unmittelbar zum Rücktritt von Heinz-Christian Strache und zur kurzzeitigen Implosion seiner FPÖ; auch zum Rückzug von Sebastian Kurz und der Havarie seiner Neuen Volkspartei lässt sich eine direkte Linie ziehen. Ohne Ibiza keine Ermittlungen rund um Postenschacher bei den Casinos; ohne jene keine Sicherstellung von Smartphones; ohne deren Auswertung keine Chats, die dutzende weitere Verfahren ausgelöst haben.

In ganz Wien sind derzeit Plakate affichiert, die Freiheit für den Regisseur des Ibiza-Videos fordern.
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Ist Julian Hessenthaler deshalb ein Held oder ein Schurke? Kein Gericht wird je darüber entscheiden. Dennoch: Er ist der Einzige in der Causa Ibiza, der heute hinter Gittern sitzt. Seit mehr als einem Jahr wartet er auf das baldige Ende seines Prozesses. Der Vorwurf: Drogenhandel. Fingiert, wie der Sicherheitsexperte beteuert.

Enttäuschung und Optimismus

In einem Besucherraum in der Haftanstalt St. Pölten erzählt er, wie alles angefangen hat. Seine hellblauen Augen wirken müde, aber klar. Seine Gedanken sind auf den Fall fokussiert, immer wieder kehrt er bei seinen Ausführungen zu den strafrechtlichen Vorwürfen zurück.

Dass er nicht aufgegeben hat, betont er gleich zu Beginn. Ein durch die Trennscheibe blitzendes Lächeln bestärkt seinen Optimismus. Der frische Haarschnitt ebenfalls. "Ich halte durch. So gut’s halt geht." Seine Enttäuschung und seine Rage darüber, in Haft zu sein, verbirgt er nicht. Doch selbst durch den Hörer hat seine Stimme noch etwas Beruhigendes. Man kann sich vorstellen, wie er seinen Zielpersonen das Blaue vom Himmel verklickerte.

Dabei sagt er, er sei "nicht sonderlich interessiert an österreichischer Innenpolitik" gewesen. Wie kommt er dann dazu, zwei FPÖ-Spitzenmänner in die Falle zu locken und damit seine Freiheit und seine berufliche Situation zu riskieren?

Für ihn sei das Ganze anfangs ein "Brainteaser" gewesen. Doch die Antworten auf die Frage nach dem Motiv lassen Interpretationsspielraum. So wie man es von einem Experten einer Branche erwarten würde, in der Verschwiegenheit und Zweideutigkeit den Ton angeben. Er wollte ausprobieren, ob so etwas möglich sei. "Ich war immer wieder perplex, wie unvorsichtig, wie leichtfertig und naiv die Leute auf so etwas eingehen", sagt er.

Der russische Einfluss

Strache sei wegen seines Bodyguards ins Visier geraten. Dieser erzählte der Soko Tape später, er habe eine schwere Krankheit durchgemacht und von der FPÖ und vor allem von Strache keine Unterstützung erfahren. Deshalb habe er begonnen, merkwürdige Vorgänge rund um Strache zu dokumentieren, und diese seinem Anwalt M. übergeben.

Dieser war wiederum ein Bekannter von Julian Hessenthaler, und so sei die Idee aufgekommen, Strache in eine Falle zu locken. Gab es dahinter ein politisches Motiv? Ihn habe der russische Einfluss auf rechtspopulistische Parteien in Europa zentral interessiert, sagt Hessenthaler.

Deshalb sei für ihn klar gewesen, dass das Video spätestens zur Wahl des EU-Parlaments im Mai 2019 öffentlich werden musste. "Man muss sich in Erinnerung rufen, dass damals davon ausgegangen wurde, dass sich die rechtsextremen und rechtspopulistischen Fraktionen im EU-Parlament zusammenschließen würden", sagt Hessenthaler bestimmt und klopft auf das Pult, das vor der Trennscheibe steht. "Das war durchaus Motivator für mich."

Poltische Motive

Ist Hessenthaler also ein linker Antifaschist? "Ich hätte mich nicht als klassisch links verortet", sagt er dazu. Aber: "Mittlerweile wird es wahrscheinlich eher ins Schema passen, wenn man ehrlich ist."

Hessenthaler bestreitet vehement, das Ibiza-Video aus Geldgründen gedreht zu haben.
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Er warnt im Gespräch ausholend vor Populismus und habe auch "in Ländern operiert, die nicht demokratisch regiert waren". Er würde sich "nicht wünschen, dass sich das ausbreitet – aber es breitet sich aus, muss man dazu sagen". Bei Sebastian Kurz habe er es "höchst kurios" gefunden, "dass da auf einmal ein 30-Jähriger, oder wie alt auch immer er damals war, als Heilsbringer auftritt, dem die gesamten Wirtschaftstreibenden mit Begeisterung folgen". Man könne wohl glauben, das liege an dessen besonderer Persönlichkeit. "Oder man kann, wenn man zynisch wie ich ist, eher glauben, dass hier jemand sich selbst verkauft hat oder seine Zukunft selbst verkauft hat", sagt Hessenthaler.

Den politisch Skrupulösen nimmt Hessenthaler nicht jeder ab. Manche denken, dass er sich nur als politisch inszeniere, um seine Chancen vor Gericht zu verbessern. Tatsächlich sei es ihm um Geld gegangen, glauben zumindest die Ermittler der Soko Tape. In deren Abschlussbericht heißt es, Hessenthaler sei in einer "tristen finanziellen Situation" gewesen und das Ibiza-Video nur ein weiteres Projekt, um Geld zu machen.

Geld oder Ehre

Hessenthaler bestreitet das vehement. "Ich habe es wie einen Auftrag behandelt. Allerdings war es nicht bezahlt. Es war nicht ausgemacht, dass bezahlt werden würde", sagt er. Die späteren Verkaufsversuche des Ibiza-Videos hätten vielmehr dazu gedient, den Bodyguard abzusichern – der jedoch abgesprungen war und sich wieder mit Strache arrangiert hatte.

Das Material war womöglich zu heiß, seine Entstehungsgeschichte zu heikel. Niemand biss an. Vertraute von Hans Peter Haselsteiner, den Strache im Ibiza-Video von Staatsaufträgen blockieren wollte, zeigten kein Interesse am Kauf des Materials. Die SPÖ beschäftigte sich bis zum damaligen Vorsitzenden Christian Kern mit dem Angebot, ließ dann aber über ihren Parteianwalt eine Absage formulieren. Trotz umfangreicher Ermittlungen hat die Soko Tape keine Hinweise darauf, dass bislang Unbekannte für die Veröffentlichung des Videos in der Süddeutschen Zeitung (SZ) und im Spiegel gezahlt hätten.

Während sich Anwalt M. um diese Verkaufsgespräche gekümmert haben soll, war Hessenthaler, der auch im Gefängnis noch gut trainiert wirkt, in "immer deutlicherer Sorge" um seine Sicherheit. Er ließ sich "schusshemmende Scheiben" einbauen; die Terrasse mit Nato-Draht bestücken. Für die österreichische Politik habe er sich zwar nur mäßig interessiert, für Geopolitik aber umso mehr.

Und das Ibiza -Video würde weit über Österreich hinauswirken, dachte Hessenthaler. Er habe "irrsinnig gestresst" gewirkt, sagt jemand, der ihn in den vergangenen Jahren erlebt hat. Und politisch doch "irre gut informiert". "Julian machte auf mich den Eindruck, als ob er lieber bei den Guten ist als bei den Bösen", sagt der Bekannte, der anonym bleiben will.

Weitgereist

Hessenthaler kann jedenfalls als Kosmopolit bezeichnet werden. Über seine Biografie weiß man nur wenig. Bevor er darüber zu erzählen beginnt, fragt er noch einmal, ob man eh eine Autorisierungsabrede habe; also ob er Zitate zurückziehen könne. Kann er. "Okay, gut. Dann etwas mehr."

Seine Eltern seien "im Prinzip" in Wien ansässig, seine Mutter dann "im Außendienst" gewesen. Hessenthaler verbrachte seine Jugend in Japan, Indien und den USA. "Relativ viel gereist", internationale Schulen. Er sei dann eine Weile in Österreich gewesen, später nach Luxemburg zu seiner Mutter gezogen und schließlich nach Deutschland gegangen, um dort seine Firma zu gründen.

Womit er Geld verdient habe, beantwortet Hessenthaler kryptisch. "Wir haben für Großkonzerne gearbeitet – im Englischen wird man wahrscheinlich von Private Intelligence sprechen." Er habe jemanden kennengelernt, "der in einem westlichen Nachrichtendienst recht hochrangig war", und so habe er ein Interesse für die Thematik entwickelt.

Dieser Bekannte habe ihn eingesetzt "für Informationsanalysen aus dem zentralasiatischen Raum hinsichtlich Netzwerkverbindungen". Teils habe er mit Behörden kooperiert, bekannt ist in Österreich etwa eine Zusammenarbeit rund um Zigarettenschmuggel. Aber die meisten von Hessenthalers Projekten sind nicht bekannt. "Ich bin jetzt nicht jemand, der in der Welt rumrennt und Jason Bourne spielen will", sagt er.

DER STANDARD

Für die Staatsanwaltschaft Wien ist Hessenthaler davon ohnehin weit entfernt: Diese hält ihn für einen Drogendealer. Seit mehr als einem Jahr sitzt er deshalb im Gefängnis, ohne Verurteilung. Der Vorwurf: Julian Hessenthaler soll zwischen 2017 und 2018 insgesamt 1,5 Kilo Kokain verkauft haben. Schon aus früheren Zeiten existiert eine Verurteilung wegen Verstößen gegen das Suchtmittelgesetz. Mit dem Ibiza -Video habe all das nichts zu tun, beteuerte die Staatsanwaltschaft am ersten Tag des Drogenprozesses.

Mächtige Feinde

Doch so einfach ist das nicht. Mit der Veröffentlichung des Videos hat Hessenthaler vielen einflussreichen Personen und Organisationen Probleme beschert. Nicht zuletzt dem Glücksspielkonzern Novomatic: Der "zahlt alle", sagte Strache im Ibiza-Video. Nach einer anonymen Anzeige rund um Postenschacher bei der teilstaatlichen Casinos Austria AG, an der die Novomatic damals Anteile hielt, startete die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA) umfassende Ermittlungen.

Davon betroffen war anfangs vor allem die Novomatic: Es gab mehrere Razzien an ihrem Firmensitz. Auch der Wohnort ihres Gründers, des Milliardärs Johann Graf, wurde durchsucht. Er wolle nur sagen, dass er nur fünf Prozent seines Umsatzes in Österreich mache, aber 100 Prozent seiner Steuern zahle und dafür 80 Prozent der "Scheiße" hier habe. Es sei wohl "der Neid, der manche motiviere", ließ Graf die Beamten laut Protokoll wissen.

"Völlig verzerrt"

In ähnlicher Stimmung ist Hessenthaler, wenn man auf einen Bekannten Grafs zu sprechen kommt: den Lobbyisten und Novomatic-Geschäftspartner Gert Schmidt. "Völlig verzerrt" sei das Bild, das Schmidt von Hessenthaler verbreitet habe – und zwar auf seinem Blog EU-Info thek. Das sei das eine, doch noch weniger könne Hessenthaler nachvollziehen, dass die Verstrickungen Schmidts in den Fall selbst bei der Staatsanwaltschaft nicht alle Alarmglocken läuten lassen.

So mischte sich Schmidt direkt in die Ermittlungen der Polizei ein, schickte immer wieder Informationen. Die Frau des einstigen FPÖ-Klubobmanns Johann Gudenus, dessen Politkarriere durch Ibiza beendet worden war, bezeichnete ihn gegenüber Ermittlern als "unseren Detektiv".

Chatauswertungen zeigen, dass Schmidt bis zur Veröffentlichung des Ibiza-Videos bei Gudenus und anderen FPÖ-Politikern für Änderungen in der Glücksspielgesetzgebung lobbyiert hat. Schmidt selbst bestreitet, dass sein Interesse an Hessenthaler mit den Tätigkeiten für die Novomatic zusammenhänge. Auch der Glücksspielkonzern beteuert, damit nichts zu tun zu haben.

"Wir haben mit dem Herrn Schmidt, der zumindest der Ermöglicher dieser Vorwürfe ist, jemanden, der mit der Familie Gudenus und mit der Novomatic offenbar sehr eng verbunden ist, auf berufliche Art und Weise, wo es auch einige Anhaltspunkte gibt, die komplett ignoriert werden." Julian Hessenthaler über Einflussnahme auf die Ermittlungen gegen ihn
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Rasch tauchte auch ein früherer Geschäftspartner von Hessenthaler in den Medien auf. Die beiden hatten sich über einen Auftrag zerstritten, waren einander spinnefeind. Unbeeindruckt davon wurde der Mann zu einem Hauptbelastungszeugen in den Ermittlungen gegen Hessenthaler. Diese führte ausgerechnet ein Polizist, der früher selbst in der Glücksspielbranche tätig war und sich von Strache den "Rücktritt vom Rücktritt" gewünscht hatte.

Falsche Freunde

Ehemalige freie Mitarbeiter von Hessenthaler wollten ihre Informationen zu Geld machen. 55.000 Euro überwies ihnen Gert Schmidt für teils falsche Informationen. Später übernahm er auch ihre Anwaltskosten. "Wir haben mit dem Herrn Schmidt, der zumindest der Ermöglicher dieser Vorwürfe ist, jemanden, der mit der Familie Gudenus und mit der Novomatic offenbar sehr eng verbunden ist, auf berufliche Art und Weise, wo es auch einige Anhaltspunkte gibt, die komplett ignoriert werden", sagt Hessenthaler dazu.

Während es in der WKStA rumorte, weil man dort mit der Arbeit der Soko Tape nicht zufrieden war, lobte die Staatsanwaltschaft Wien, die gegen Hessenthaler ermittelt, deren Arbeit in höchsten Tönen. In die Suche nach dem Ibiza-Produzenten wurden viele Ressourcen gesteckt. "Es erstaunt mich wenig, wenn ich höre, dass ein Großteil der Soko damit beschäftigt war, mir sinnlos hinterherzurennen, statt einfach einen Brief zu schreiben und zu fragen, ob ich nicht bereit wäre für eine Einvernahme im Rechtshilfeweg, was ich durchaus gewesen wäre", sagt Hessenthaler dazu.

Tatsächlich dauerte es vom Erscheinen des Ibiza-Videos noch anderthalb Jahre, bis Hessenthaler in Deutschland verhaftet wird. Die Auslieferung nach Österreich erfolgte nur unter der Bedingung, dass er nicht wegen Vorwürfen im Zusammenhang mit dem Ibiza-Video verfolgt werden darf. Im Herbst 2021 beginnt dann endlich der Drogenprozess gegen Hessenthaler.

Unglaubwürdige Zeugen

Offen ist, wie viel eigentlich von den Vorwürfen der Staatsanwaltschaft übrigbleibt – denn bisher wirkten die beiden Hauptbelastungszeugen eher unglaubwürdig. Während der vier bisherigen Prozesstage widersprachen sie sich immer wieder; auch zuvor hatten sie ihre Aussagen gegenüber Ermittlern immer wieder abgeändert.

Auf Plakaten in ganz Wien wird für Hessenthalers Freispruch geworben. Die Ermittler halten ihn für einen Kriminellen.
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Trotzdem muss Hessenthaler zumindest vorerst in Haft bleiben. Ein Antrag auf elektronisch überwachten Hausarrest wurde abgelehnt. Der letzte Prozesstag soll im Februar stattfinden; zahlreiche NGOs wie Amnesty International begleiten die Verhandlungen kritisch und fürchten einen Einschüchterungsversuch gegen Whistleblower.

Das Ibiza-Video habe ihn mehrere Jahre gekostet, die Staatsanwaltschaft wolle ihn noch länger eingesperrt sehen, sagt Hessenthaler. Er sei etwas erschöpft, "aber mein Gott, ich halte durch". Wovon er träumt? Das Erste, das er sich vorgenommen hat, sollte er aus dem Gefängnis kommen: "Dass ich meinen Rucksack nehmen und drei Wochen irgendwo wandern gehe. Allein."

Der einsame, mutige Whistleblower, der durch die Berge streift? Darauf will Hessenthaler nicht antworten. Ob er ein Held sei, sollen andere bewerten. (Fabian Schmid, Zsolt Wilhelm, Muzayen Al-Youssef, Oliver Das Gupta, 29.1.2022)