Der aktuellen Debatte muss Lindsay Hoyle einige Worte vorausschicken, schließlich geht es um Nordirland. Ausdrücklich schärft der Speaker des Londoner Unterhauses den Abgeordneten ein, "keine Details oder Namen" zu nennen, schließlich gehe es um offene Gerichtsverfahren.

Tatsächlich nennt der Chef der katholisch-nationalistischen Partei SDLP, die mit zwei Mandaten im House of Commons vertreten ist, weder Namen noch Details, als er am Mittwochvormittag auf den Jahrestag des "Bloody Sunday" zu sprechen kommt. Vor 50 Jahren, sagt Colum Eastwood aus Derry in ruhigem Tonfall, "wurde das Fallschirmjäger-Regiment in meine Stadt geschickt, um 14 unbewaffnete Menschen zu ermorden". Schande, rufen die direkt neben ihm sitzenden Abgeordneten der protestantisch-unionistischen DUP empört. Deren Vorsitzender Jeffrey Donaldson erinnert kurz darauf an den 50. Todestag zweier in Derry getöteter Polizeibeamte. "Jeder Tod ist von Bedeutung." Den Blutsonntag vom 30. Jänner 1972 erwähnt er mit keinem Wort.

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Neben den Erschossenen und gab es am Bloody Sunday auch zahlreiche weitere Opfer. Zwölf Menschen wurden angeschossen, viele andere mit großer Brutalität behandelt.
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Die Szene von dieser Woche verdeutlicht, wie tief die Gräben im irischen Teil des Vereinigten Königreichs bis heute sind. Was sind in der langen, konfliktreichen Geschichte Irlands schon 50 Jahre? Mag der Bürgerkrieg auch seit beinahe einem Vierteljahrhundert Vergangenheit sein – die Toten beider Seiten, die Gräueltaten von Sicherheitskräften und Terroristen bleiben höchst präsent, und die Politiker der diversen Bevölkerungsgruppen verhalten sich entsprechend.

Soldaten im Garten

In der Abfolge schrecklicher Massaker nimmt der Blutsonntag von Derry – Protestanten wie Donaldson sprechen von Londonderry – einen besonderen Platz ein. Die Schüsse auf unbewaffnete Bürgerrechts-Demonstranten, die Särge der Toten, die Wunden der Schwerverletzten wirkten als Brandbeschleuniger für die verharmlosend Troubles genannten Unruhen. "Bloody Sunday" radikalisierte das katholische Bürgertum: Statt der Gleichheit aller Untertanen Ihrer Majestät galt nun vielen die Vereinigung mit der Republik Irland als Ziel. Hunderte junger Leute schlossen sich der bis dahin wenig bedeutenden Provisional IRA an, einer militanten Abspaltung des Altherrenclubs irisch-republikanische Armee; aus der amerikanischen Diaspora wurde der bewaffnete Kampf gegen die Scherheitskräfte mit vielen Millionen finanziert.

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Die Bilder des Geschehenen gingen um die Welt, und sorgten dort für Entsetzen. In Nordirland fachten sie die Konflikt an.
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Nach dem Vorbild Amerikas hatte die katholische Minderheit Nordirlands in den 1960er Jahren damit begonnen, gegen ihre offene Diskriminierung bei Wahlen, bei der Vergabe von Sozialwohnungen und Jobs zu protestieren. Die brutale Reaktion der rein protestantisch dominierten Provinzregierung in Belfast schockierte auch die damalige Labour-Regierung in London. Im Sommer 1969 schickte sie die Armee nach Nordirland, viele Katholiken begrüßten die Soldaten damals als Schutz gegen die verhasste Polizeitruppe Royal Ulster Constabulary (RUC). "Wir hatten Soldaten in unserem Garten, denen brachten wir Milch zum Trinken", erinnert sich Séamus McGrenera an seine Kindheit im katholischen Viertel Bogside in Derry.

Mehr als nur "extrem rücksichtslos"

Im Jänner 1972 war für den damals dann schon 15-jährigen Gymnasiasten wie für große Teile der katholischen Bürgerschicht die britische Armee längst zum Teil des verhassten Unterdrückungsapparates geworden. Soldaten patrouillierten auf den Straßen und kontrollierten die Grenzübergänge zur wenige Kilometer entfernten Republik Irland. Das Regierungsprogramm der Inhaftierung ohne Gerichtsverfahren ("internment") wurde brutal durchgesetzt, immer wieder starben Demonstranten durch Armeekugeln, umgekehrt erschoss die IRA vereinzelt Soldaten.

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Den Beerdigungen wohnten Tausende bei.
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Für den 30. Jänner mobilisierte die Bürgerrechtsbewegung zu einem großen Protestmarsch, den die nordirische Regierung umgehend verbot. Trotzdem strömten mehr als 10.000 Nordiren nach Derry. "Es herrschte Karnevalsatmosphäre", so McGrenera, der von der Türschwelle des elterlichen Hauses aus zusah. Mehrere ältere Cousins schlossen sich dem Demonstrationszug an.

Was später geschah, ließ die Londoner Regierung zweimal untersuchen. Lordrichter John Widgery bezichtigte die Demonstranten 1972 der Provokation, sprach von Nagelbomben und Schusswaffen, stufte jedoch auch die Handlungen mancher Soldaten als "extrem rücksichtslos" ein. Dabei blieb es 26 Jahre lang, bis zur Einsetzung einer Kommission unter Leitung von Lordrichter Mark Saville durch den damaligen Premierminister Tony Blair.

"Das war glatter Mord"

Zwölf Jahre, 2.500 Zeugenaussagen, 160 Aktenordner Beweismittel und Kosten von umgerechnet 235 Millionen Euro später lag Savilles 5.000-seitiger Bericht vor. Das eindeutige Ergebnis: Die Schuld an den Ereignissen am Blutsonntag von Derry lag "eindeutig und uneingeschränkt" bei der britischen Armee. Der Kommandeur der Fallschirmjäger, Derek Wilford, schickte seine Einheit gegen den ausdrücklichen Befehl seiner Vorgesetzten mitten in die Bogside. Die Soldaten schossen gezielt auf Fliehende, fünf der Opfer wurden hinterrücks getötet. Im Kugelhagel ließen acht Teenager ihr Leben, aber auch gestandene Familienväter, die vormittags mit der Familie eine katholische Messe besucht hatten. McGreneras Cousins kamen mit dem Schrecken davon.

Der mittlerweile verstorbene Ortspfarrer und spätere Bischof von Derry, Edward Daly, war damals unter den Demonstranten. Ein Foto von ihm, tief gebückt, ein weißes Taschentuch in der Hand, die Evakuierung eines tödlich Verletzten unterstützend, ging um die Welt. Er könne, sagte der Geistliche später, "meinen Zorn nicht unterdrücken: Das war glatter Mord."

Niemand wurde verurteilt

Genauso sah es die Republikanerin Bernadette Devlin. Als tags darauf Innenminister Reginald Maudling im Unterhaus die Demonstranten für das Geschehen verantwortlich machte, erzwang die junge Abgeordnete das Wort, beschimpfte den Minister als "mörderischen Heuchler" und zerkratzte ihm das Gesicht. Von einem hochnäsigen BBC-Mann abends zur Rede gestellt, wandte sich Devlin der Kamera zu: "Ich würde es wieder tun. Schließlich habe ich ihn nicht von hinten angegriffen, wie es unseren Menschen geschehen ist."

Noch heute beschäftigt das Geschehen die Menschen in Nordirland. Das Bild von Pfarrer Edward Daly (auf der Wandmalerei rechts), tief gebückt, ein weißes Taschentuch in der Hand, mit einem Verletzten ging um die Welt
Foto: APA / AFP / Paul Faith

Daheim in Derry sorgte Devlins Aktion "für Begeisterung", erinnert sich McGrenera an die sonst von stiller Trauer geprägten Tage nach den Todesschüssen. Viele Schulen und Betriebe blieben geschlossen. Als talentierter Orgelschüler durfte der 15-Jährige am Trauergottesdienst in der Marienkirche teilnehmen, Tausende von Menschen mussten draußen warten. "Vor dem Altar war zu wenig Platz, die Särge wurden in den ersten Reihen aufgebahrt. Der Anblick ist mir unvergesslich", sagt der längst in London lebende frühere Anwalt.

Für McGrenera wie für die Bewohner von Derry sind die 50 Jahre zurückliegenden Ereignisse "sehr präsent". Nach Veröffentlichung des Saville-Berichts entschuldigte sich der damalige konservative Premierminister David Cameron uneingeschränkt bei den Opfern, eine Entschuldigung, die der jetzige Amtsinhaber Boris Johnson am Mittwoch wiederholte. Die "laufenden Verfahren", von denen Speaker Hoyle sprach, haben jedoch bis heute zu keiner Verurteilung der damals Verantwortlichen geführt. Zu ihnen zählt "Soldat F", der Saville zufolge allein fünf Menschen getötet und weitere vier verletzt hat. "Es fühlt sich an, als hätten die Toten und Verwundeten keine Gerechtigkeit erfahren", resümiert der Jurist McGrenera. (Sebastian Borger aus London, 30.1.2022)