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Sebastian Kurz (ÖVP) und Heinz-Christian Strache (FPÖ, rechts) segneten mit ihrer Unterschrift auf jeder Seite den Sideletter ab

Foto: AP/Zak

Er galt schon fast als sagenumwoben: Immer wieder spielte in den staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen und im parlamentarischen U-Ausschuss der sogenannte Sideletter zwischen ÖVP und FPÖ eine Rolle. Über ihn wurde in Chatnachrichten diskutiert, Fragmente wurden durch Handyfotos bekannt. Nun ist der Sideletter in seiner Gänze publik geworden.

Frage: Worum geht es in diesem Sideletter?

Antwort: Es handelt sich dabei um Nebenabsprachen zum Regierungsübereinkommen 2017, in dem es vor allem um verschiedene Posten geht. Überspitzt gesagt geht es um die Aufteilung der Republik zwischen den Koalitionspartnern. Aber auch einzelne Gesetzesvorhaben werden im Sideletter angeführt, ebenso deren Timing. Zusätzlich existieren weitere Vereinbarungen im Bereich des ORF oder für die Kammern.

Frage: Ist so ein Sideletter normal, ist er legal?

Antwort: Es liegt nahe, dass sich Koalitionspartner über Besetzungen verständigen. Großteils geht es auch im türkis-blauen Sideletter um Personalia, die von der Bundesregierung oder der Regierungsmehrheit im Nationalrat ernennt werden können. Das gilt für Aufsichtsratsmandate bei staatsnahen Betrieben ebenso wie für die Mitglieder des Verfassungsgerichtshofs (VfGh) oder den Präsidenten des Verwaltungsgerichtshofs. Auch die türkis-grüne Koalition hat derartige Nebenabsprachen abgeschlossen.

Frage: Warum herrscht dann so eine Aufregung rund um den ÖVP-FPÖ-Sideletter von 2017?

Antwort: Einzelne Passagen sind merkwürdig: So werden schon konkrete Namen für Posten vermerkt, beispielsweise Wolfgang Brandstetter als Mitglied des Verfassungsgerichtshof. Der war damals, zur Zeit der Verhandlungen, selbst noch Justizminister. An dem direkten Wechsel von Ministeramt zum Höchstgericht gab es damals große Kritik. Brandstetter trat vergangenes Jahr zurück, nachdem despektierliche Chats zwischen ihm und Justiz-Sektionschef Christian Pilnacek aufgetaucht waren. Im türkis-grünen Sideletter sind keine konkreten Namen zu finden.

Frage: Welche Passagen sind strafrechtlich relevant?

Antwort: Heikel ist im türkis-blauen Sideletter vor allem folgender Satz im Zusammenhang mit der staatlichen Beteiligungsgesellschaft: "Der Vorstand der Beteiligungsgesellschaft wird durch die ÖVP nominiert". Die Nominierung von Aufsichtsratsmitgliedern bei staatsnahen Betrieben ist vorgesehen, bei Vorstandsposten in Aktiengesellschaften wie der Öbag ist das anders. Dort hat dann der jeweilige Aufsichtsrat die Aufgabe, die am besten geeignete Person in einem objektiven Auswahlverfahren zu finden. Wird durch parteipolitische Interventionen nicht der oder die Beste zum Vorstand bestellt, könnte das Delikt der Untreue schlagend werden, da das Unternehmen geschädigt würde. Allerdings wird aus dem Umfeld von Kurz darauf verwiesen, dass die staatliche Beteiligungsgesellschaft zum Zeitpunkt des Sideletters ja noch die Öbib und nicht die Öbag war, also keine Aktiengesellschaft mit Aufsichtsrat.

Frage: Worum geht es hier konkret?

Antwort: Besonders zwei Vorstandsbestellungen unter Türkis-Blau beschäftigen die Ermittler der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft. Da wäre einerseits die Bestellung des Vorstands der Casinos Austria AG (Casag), wo der FPÖ-Politiker Peter Sidlo und die frühere ÖVP-Vizepartiobfrau Bettina Glatz-Kremsner zum Zug kamen. Glatz-Kremsner verfügte über große Erfahrung im Bereich des Glücksspielmanagements, Sidlo wurde hingegen mangelnde Qualifikation vorgeworfen, was er bestreitet. Deshalb kam es nach dem Erscheinen des Ibiza-Videos zu den breitflächigen Korruptionsermittlungen, die deshalb ja nach wie vor im "Casinos-Akt" geführt werden. Die WKStA geht auch der These nach, dass die Bestellung von Thomas Schmid, einem Vertrauten des damaligen Kanzlers Sebastian Kurz (ÖVP), mit der Bestellung von Peter Sidlo (FPÖ) verknüpft war: Ein quid pro quo also.

Frage: Was enthüllt der Sideletter für diese Causa?

Antwort: Die Bestellung von Thomas Schmid zum Chef der Österreichischen Beteiligungsgesellschaft (Öbag) hat für viel Kritik gesorgt. Er hatte zuvor als Generalsekretär des Finanzministeriums am Umbau der Holding zur Öbag mitgearbeitet und da die Ausschreibung für den von ihm später erlangten Posten mitgeschrieben. Der Satz, dass die ÖVP über das Nominierungsrecht für den Staatsholding-Vorstand verfüge, könnte bedeuten, dass Schmid schon lange als deren künftiger Alleinvorstand feststand. Im parlamentarischen Untersuchungsausschuss gaben sich diverse Spitzenpolitiker, allen voran Altkanzler Kurz, dazu allerdings sehr zugeknöpft. Kurz bestritt stets, dass Schmid als Vorstand feststand und er sich in Personalangelegenheiten involviert hätte.

Frage: Was heißt das für die Ermittlungen gegen Sebastian Kurz?

Antwort: Die WKStA verdächtigt Kurz bekanntlich, den U-Ausschuss nicht vollumfänglich über sein Wissen zu Öbag-Personalentscheidungen informiert zu haben, was dieser bestreitet – es gilt die Unschuldsvermutung. In seiner Beschuldigtenvernehmung befragte der Richter den damaligen Kanzler nach Chatnachrichten, in denen von "Stress" wegen "Definition mit FPÖ-Kandidaten laut Sideletter" entstanden sei. Ob Kurz wisse, was mit dem im Chat genannten Sideletter gemeint sei? "Nein, keine Ahnung, vielleicht das Dokument, das Sie vorher projiziert haben, das auch nicht von mir ist. Involviert war ich einfach nur im Regierungsprogramm", antwortete Kurz.

Später in der Einvernahme sagte Kurz dann, es sei "vieles vereinbart worden" in der Zeit der Regierungsverhandlungen, auch "Strukturen"; zu später fixierten Sidelettern wisse er nicht Bescheid. Der Oberstaatsanwalt wollte dann wissen, "ob dieses Regierungsprogramm eine mündliche oder schriftliche Vereinbarung ist, ob sie auch unterschrieben ist, wer das auch ad personam mit wem vereinbart hat und ob die noch verfügbar ist, weil das natürlich ein wesentliches Beweismittel wäre, wäre natürlich interessant was da drinnen steht diesbezüglich." Daraufhin brach Kurz die Einvernahme ab.

Frage: Wie ist der Sideletter nun publik geworden?

Antwort: Am 24. Jänner 2022 war der freiheitliche Klubdirektor Norbert Nemeth zur Einvernahme als Zeuge bei der WKStA. Diese hatte den FPÖ-Parlamentsklub in Nemeths Ladung aufgefordert, das Dokument, sollte es existieren, zu übermitteln. Und das tat es – in einem Tresor in den Räumlichkeiten des freiheitlichen Klubs. Das Dokument wurde der Zeugeneinvernahme beigelegt, beides kam in den Casinos-Akt und wurde zuerst von ORF und "Profil" berichtet. Im Zuge der Recherchen gelangte der ORF offenbar auch zum türkis-grünen Sideletter – zu vermuten ist, dass jemand zeigen wollte, dass derartige Absprachen "normal" seien. (Fabian Schmid, 29.1.2022)