Das Potenzial in Nigeria sei einfach zu groß, um es zu ignorieren, begründet die litauische Softwareentwicklungsfirma Telesoftas ihre Entscheidung zur Errichtung der ersten Zweigstelle in Abuja. Die Hauptstadt Nigerias zählt schon länger zu den größten Tech-Hubs des afrikanischen Kontinents. Die Bevölkerung ist jung und gilt als äußerst technikaffin – ein regelrechter Talente-Pool, der in Europa zusehends rar gesät ist.

Kennedy John Ibeh ist eines dieser nigerianischen Talente. Er studierte eigentlich Maschinenbau, brachte sich aber autodidaktisch mithilfe von Internetvideos einige Software-Skills bei. Ibeh lernte zu coden und verdiente sein Geld als Android-Entwickler, ehe er auf das Digital-Explorer-Programm stieß, wodurch es ihn vorerst in den Nordosten Europas verschlagen sollte.

Kennedy John Ibeh (gelbe Kleidung) mit weiteren Teilnehmern des Digital-Explorer-Programms in Litauen.
Foto: Digital Explorers

Das Programm will unter der Schirmherrschaft der EU-Kommission und des Zentrums für Migrationspolitik gezielt junge Talente nach Europa holen, die hier ihren technischen Feinschliff bei unterschiedlichsten Firmen erhalten. 26 junge Männer und Frauen waren es in der ersten Runde, auch wenn man am liebsten 50 oder noch mehr geholt hätte, sagt Mantė Makauskaitė vom Thinktank Afriko, der die Talentesuche organisiert.

"Heute bin ich ein waschechter Softwareentwickler", sagt Ibeh zum STANDARD. Er wird wie 18 andere Nigerianer und Nigerianerinnen vorerst in Litauen bleiben. Die einjährige Anstellung beziehungsweise das sechsmonatige Traineeship sind nämlich in zahlreiche langfristige Festanstellungen übergegangen.

Die restlichen Programmteilnehmerinnen wollen zunächst einmal heimkehren und die gewonnenen Fähigkeiten am dortigen Tech-Markt verbreiten und nutzen. Ibeh aber hat nicht nur an den Weiterbildungsmöglichkeiten Gefallen gefunden, sondern auch an der Arbeitsmentalität und der besseren Work-Life-Balance in Europa, wie er sagt.

Langsames Umdenken

Zu oft drehe es sich in seinem Heimatland noch darum, dass Softwareprodukte möglichst schnell fertig werden. In Litauen aber gefalle ihm, dass das gesamte Team erst dann zufrieden sei, wenn sie vom Produkt selbst überzeugt sind.

Zu selten werde in Nigeria auch noch auf das mentale Wohlbefinden der Angestellten geachtet – wobei sich dies mit einer jungen Generation an Unternehmerinnen und Chefs mit einem frischen Mindset auch langsam, aber zusehends verbessere, sagt Ibeh. Noch nicht verbessert haben sich die Chancen vieler junger Afrikanerinnen und Afrikaner, die sich am europäischen Arbeitsmarkt beweisen wollen.

"Ich bin jetzt ein waschechter Programmierer", sagt Kennedy John Ibeh.
Foto: Digital Explorers

"Die Hürden sind einfach zu hoch", sagt Makauskaitė über die legalen Möglichkeiten zur Migration von Afrika nach Europa. Einer wie Ibeh hätte mit seinem Lebenslauf niemals die Blaue Karte bekommen, die hochqualifizierten Drittstaatsangehörigen den Aufenthalt in der EU für Arbeitszwecke ermöglicht. Bildung und Qualifikation seien eben nicht ausschließlich anhand von Dokumenten, Zertifikaten und Abschlüssen zu messen.

Das, was bei europäischen Unternehmen in den Informations- und Kommunikationstechnologien gefragt ist, sei – wie in Ibehs Fall – oft eben selbst oder außerhalb von formalen Bildungswegen erlernbar. Von anderen Perspektiven und Sichtweisen, die Menschen aus anderen Regionen der Welt mitbringen können, ganz zu schweigen.

Es gehe um einen Zugang, der den Menschen in den Fokus rückt und dem 21. Jahrhundert gerecht werde, sagt Makauskaitė im Gespräch mit dem STANDARD. Ein humanzentrierter Ansatz könnte freilich auch die gefährliche und vielfach tödliche irreguläre Migration zumindest ein Stück weit eindämmen. Allein 2021 waren es laut dem Missing Migrants Project mehr als 2.000 Menschen, die nach einer Flucht über das Mittelmeer als vermisst gelten.

Großer Fachkräftebedarf

12.000 Ibehs würde allein der litauische Markt benötigen, sagt Makauskaitė – ein Bedarf, der durch die heimische Bevölkerung unmöglich zu decken sei. Knapp 25.000 Menschen kamen in Litauen im vergangenen Jahr zur Welt. Selbst mit massivem Zuzug aus anderen EU-Staaten – die ihrerseits oft selbst akuten Fachkräftemängel anmelden – wäre nicht alles zu decken, glauben Fachleute. Auch deshalb wagen Firmen wie Telesoftas zusehends den Schritt nach Afrika oder Asien, um dort nach Talenten zu suchen – andererseits freilich auch, um in aufstrebenden Märkten selbst Fuß zu fassen.

Das Dutzend beteiligter Firmen bilanziert die erste Runde des Digital-Explorer-Programms jedenfalls positiv. Auch seitens Afriko sieht man das Projekt als gelungen an und will möglichst bald in anderen europäischen Märkten vergleichbare Programme aufstellen – zunächst vor allem im Baltikum.

Die anfängliche Skepsis unter den teilnehmenden Firmen sei durch die positiven Erfahrungen nämlich schnell gewichen. Und so startete Ende 2021 zusätzlich ein rein weibliches Team junger nigerianischer Datenanalystinnen mit der Arbeit in Litauen.

Auch Ibeh will zunächst in Litauen bleiben, womöglich noch in dem einen oder anderen EU-Land arbeiten, bevor er sein Erspartes auch zum Bereisen seines eigenen Heimatlandes verwendet. Er kenne das Land in seiner Vielfalt und Größe noch immer zu wenig. (Fabian Sommavilla, 8.2.2022)