Der Bauboom in der steirischen Landeshauptstadt verlagert sich zusehends auch in die Randviertel der Grazer City, wie hier in Waltendorf. Die Bürgerinitiative Unverwechselbares Graz kritisiert, dass zu viel gebaut werde und bald tausende Wohnungen leer stehen würden.

Foto: Unverwechselbares Graz

Der Grazer Altbürgermeister Siegfried Nagl (ÖVP) hatte ein Faible für Baukräne. "Ich bin baubegeistert, manche bezeichnen mich als bauwütig. Ich fühle mich als Bürgermeister nur dann wohl, wenn ich mehrere Kräne über Graz sehe. Ich jogge auch immer wieder auf den Schlossberg, um sicherzustellen, dass auch genügend davon aufgestellt sind", wird Nagl im steirischen Internetportal für Architektur GAT zitiert.

Diese Liebe zu den Kränen dürfte Nagl zum Verhängnis geworden sein und wesentlich dazu beigetragen haben, dass ihm die Wählerinnen und Wähler ihre Gunst entzogen und ihn bei der Gemeinderatswahl im September 2021 abgewählt haben.

Der überbordende Bauboom hatte die Grazerinnen und Grazer zunehmend zu irritieren begonnen. Zumal auch die alte Prognose, wegen des Zuzugs tausender neuer Bürgerinnen und Bürger müsse Wohnraum geschaffen werden, so nicht mehr stimmte. Die Bevölkerungsentwicklung stagniert, zumeist junge Familien ziehen ins Umland, in den Speckgürtel. Dort ist der Wohnraum billiger, die Welt grüner und die Luft besser. Die Pandemie hat diesen Trend, der europaweit zu beobachten ist, noch beschleunigt.

Goldgräberstimmung

Die Grazer Politik ignorierte aber die sich veränderten Bedingungen und ließ weiter munter drauf losbauen. Der Grazer Wohnimmobilienmarkt etablierte sich neben Wien als zweites wichtiges Investmentziel in Österreich. Auch große internationale Immobilienfonds entdeckten den Standort Graz.

Es herrscht seit Jahren Goldgräberstimmung, an allen Ecken und Enden werden Wohnblöcke in die Höhe gezogen, mit dem Effekt: Es wird offenbar Wohnraum auch auf Halde gebaut. "Wir haben berechnet, dass ab den nächsten Jahren 50.000 Wohnungen leer stehen werden", sagt Doris Pollet-Kammerlander, ehemalige Grünen-Politikerin und jetzige Obfrau des Vereins "Initiative für ein unverwechselbares Graz", der sich für eine "qualitätsvolle Gestaltung des Lebensraumes" in Graz einsetzt. In der Baukulturinitiative engagieren sich Architektinnen und Architekten, Stadtplaner, Wissenschafterinnen, Historiker, Künstler und ehemalige Politikerinnen.

Es geht um die Rendite

"In Graz werden seit Jahren in Bausch und Bogen Wohnungen gebaut, völlig egal, ob jemand drinnen wohnen wird oder nicht, es ist irrelevant. Es geht den Investmentfonds um die Anlage, die Rendite", sagt Doris Pollet-Kammerlander.

Mit Beginn des neuen Jahres klafften jedenfalls die Zahlen der rückläufigen Bevölkerungsentwicklung und die Anzahl der Wohnungen bereits weit auseinander. Während der Zuwachs der Bevölkerung bei bescheidenen 1.500 liege, sei die Anzahl der verfügbaren Wohnungen um 6.500 gestiegen, sagt Pollet-Kammerlander.

Mit 1. Jänner 2022 sind in Graz 333.049 Personen mit Haupt- oder Nebenwohnsitz gemeldet. Ebenfalls mit Jahresbeginn 2022 weist die Statistik Graz 208.918 fertiggestellte Wohnungen aus. "Nach unseren Recherchen befinden sich mehr als 16.000 weitere Wohnungen in Planung, Baueinreichung oder in Bau, die in den nächsten zwei bis drei Jahren auf den Markt kommen werden. Bei einer durchschnittlichen Haushaltsgröße von zwei Personen, wie die Statistik Steiermark erhoben hat, sind das dann für etwa 170.000 Haushalte, sagen wir, 225.000 Wohnungen. Das bedeutet: Es ist ein Leerstand von niedrig geschätzten 50.000 Wohnungen vorprogrammiert", rechnet Pollet-Kammerlander vor.

Die Dynamik der Wohnbauvorhaben ist derzeit vor allem im Grazer Westen, im neuen Stadtviertel Reininghaus oder der Smart City zu beobachten, wo beachtliche Wohnanlagen in die Höhe wachsen. Wobei sich der Bauboom mittlerweile unbemerkt auch – weg von den großen Projekten – in die Randzonen der City verlagert.

Von den dokumentierten etwa 260 Wohnprojekten betreffen rund 190 auch kleinere Bauprojekte mit 4.600 Wohnungen, die anstelle von – abgerissenen – Einfamilienhäusern, Villen und Vorstadthäusern errichtet werden. Standorte für Neubauten sind auch Gärten, Grün- oder Innenhofflächen.

Großzügiges Baugesetz

"Wer in der Stadt bauen will, kommt in den Genuss eines großzügigen Baugesetzes, denn es kann die maximale Baudichte ausgenutzt werden. Wer also ein Häuschen besitzt, kann darauf in der Regel ein Haus mit vier, sechs oder gar zwölf Wohnungen errichten. Immobilienfirmen gehen regelrecht auf Jagd nach Einfamilienhäusern oder kleinen Grundstücken, um dort kleinere Projekte zu realisieren", sagt Pollet-Kammerlander.

Wie konnte das Bauen in Graz so aus dem Ruder laufen? "Man hat die Stadtbebauung den Investoren überlassen, die Stadt hat deren Bebauungspläne einfach übernommen", sagt die Ex-Politikerin. Pollet-Kammerlander und die Baukulturinitiative drängen nun die neue rot-grün-rote Stadtkoalition, auf die Baubremse zu steigen. Die Stadtplanung solle endlich "klare Vorgaben machen, was die Bebauungspläne und die Einhaltung der Bebauungsdichtebestimmungen anbelangt".

Das Land wiederum müsse die "überzogener Baugesetze, die bislang einseitig die Investoren begünstigen, rasch ändern", fordert Pollet-Kammerlander. (Walter Müller, 1.2.2022)