Die geheime Hinterhauswohnung der Tagebuchschreiberin Anne Frank, ihrer Familie und vier weiterer Versteckter wurde 1944 entdeckt, die Jüdinnen und Juden deportiert. Nur ihr Vater Otto Frank überlebte die Shoah.
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Vor zwei Wochen sorgte das Erscheinen eines Sachbuchs für Aufsehen: Es fasste die mehrjährige Recherche eines Teams zusammen, das sich auf die Spurensuche nach dem "Verräter" von Anne Frank gemacht hatte – also die ungeklärte Frage beantworten wollte, wer für das Preisgeben des Amsterdamer Verstecks im Hinterhaus verantwortlich war.

Das Heikle am Ergebnis dieser Untersuchung: Das Rechercheteam geht davon aus, dass es mit hoher Wahrscheinlichkeit kein glühender Nationalsozialist war, der vom Versteck erfuhr und die Verhaftung einleitete. Auch keine kollaborierende Schreibtischtäterin oder ein antisemitischer Nachbar sollen es gewesen sein, denen, mit Hannah Arendt gesprochen, die Banalität des Bösen innewohnt. Stattdessen: der Notar Arnold van den Bergh. Ein Jude, der selbst unter Druck geriet und sich und seine Familie retten wollte (DER STANDARD berichtete).

Unverantwortliche Anschuldigungen

Seit die Untersuchung in Form des Buches "Der Verrat an Anne Frank. Eine Ermittlung" der kanadischen Autorin Rosemary Sullivan der Öffentlichkeit zugänglich ist, hagelt es Kritik daran. Der "Spiegel" zitiert den Historiker Bart van der Boom von der Universität Leiden, der dem Forschungsteam, das aus etwa 20 Fachleuten aus den Bereichen Geschichte und Kriminologie besteht, vorwirft, "verleumderischen Unsinn" zu verbreiten. Ob es Adresslisten gegeben habe, mit denen Mitglieder des sogenannten Judenrats, der von den NS-Behörden zwangsweise eingerichtet worden war, Verstecke überhaupt preisgeben konnten, sei "Hörensagen": "Die schweren Anschuldigungen sind unverantwortlich."

Van der Boom schätzt auch die Zeugenaussagen von Nazis in der Nachkriegszeit als unzuverlässig ein, wie der niederländische Schriftsteller Leon de Winter in der "Neuen Zürcher Zeitung" ausführt. Eine solche Aussage eines deutschen Übersetzers habe das Forschungsteam allerdings als weiteres Indiz einbezogen: Seinen Angaben zufolge habe der Judenrat Adressen versteckter Jüdinnen und Juden weitergegeben, auch wenn die angeblichen Listen bisher nie gefunden wurden.

"Wacklig wie ein Kartenhaus"

Da es sich bei dem Schriftstück, auf das sich die Untersuchung stützt und das den jüdischen Notar als "Schuldigen" anführt, um eine anonyme Nachricht handelt, sei zudem die Glaubwürdigkeit fraglich, betont Bart Wallet, Professor für Jüdische Geschichte an der Universität Amsterdam. Ihm zufolge sei "die Beweisführung des Rechercheteams so wacklig wie ein Kartenhaus".

Als Mitglied des Judenrats sei van den Bergh der Kollaboration verdächtigt worden, weshalb der Jüdische Ehrenrat, der für entsprechende Prüfungen zuständig war, gegen ihn ermittelte. Dabei sei es aber nie um den Vorwurf gegangen, er habe versteckte jüdische Familien verraten, sagt Wallet. Nach dem Krieg habe er zum Wiederaufbau der jüdischen Gemeinde Amsterdam beigetragen.

Es fehlen also harte Beweise, wie die Historiker betonen – und dies komme in den Big-Data-gestützten Analysen, die sich auch auf fragwürdige Aussagen eines Kollaborateurs stützen, zu kurz, so die Kritik. Das Interesse am Fall ist zwar nachvollziehbar, doch bei solch einer unsicheren Basis ist die richtige Kontextualisierung umso wichtiger. Und diese scheint der Forschungsgruppe und der Autorin Sullivan, die von einem "langsamen Zusammenfügen von Beweisen und Motiven, einem Puzzleteil, das plötzlich und unbestreitbar passt", schreibt, nicht gelungen zu sein. Stattdessen "wird nun ein Jude zum Verräter des ikonischen Gesichts des Holocaust gemacht", schreibt de Winter.

"Kritischere Haltung möglich"

Konsequenzen daraus zieht nun offenbar der Verlag Ambo Anthos, der für die niederländische Übersetzung des Buches zuständig ist. Zwar gibt es noch keine öffentliche Stellungnahme, doch Verlegerin Tanja Hendriks schickte eine E-Mail an die Autorinnen und Autoren aus, wie mehrere Medien unter Bezugnahme auf einen Literaturblogartikel vom Montag berichten.

Demnach habe der Verlag vor vier Jahren die niederländischen Rechte am Buch gekauft, da eine Untersuchung der Frage "wertvoll" erschien. Die inhaltliche Verantwortung liege beim US-Verlag Harper Collins. Angesichts der Resonanz entschuldige sich der niederländische Herausgeber aufrichtig "bei allen, die sich durch das Buch verletzt fühlen". Man sei sich bewusst, "dass hier eine kritischere Haltung möglich gewesen wäre". Ob eine zweite Auflage gedruckt wird, ist aktuell in der Schwebe. Eine offizielle Erklärung auf der Website des Verlags gibt es derweil allerdings noch nicht.

Überraschte Recherchegruppe

Die Verlegerin schreibt auch, dass man zunächst auf "Antworten des Forschungsteams auf die aufgeworfenen Fragen" warte. Darauf reagierte der Leiter der Recherche, der Autor Pieter van Twisk, der Zeitung "de Volkskrant" zufolge jedoch überrascht. Immerhin habe er Ambo Anthos schon am vergangenen Donnerstag besucht und die Kritikpunkte zurückgewiesen. Anzeichen für einen Vertrauensverlust vonseiten des Verlags zeigten sich bei der Unterhaltung seiner Auffassung nach nicht: "Woher das plötzlich kommt, ist mir ein Rätsel." Auf Nachfragen reagierte bisher offenbar weder Ambo Anthos noch der englischsprachige Verlag Harper Collins.

Van Twisk steht nach wie vor hinter den veröffentlichten Ergebnissen, die freilich keine hundertprozentige Sicherheit liefern, wie das Versteck von Anne Frank und den anderen, die im Hinterhaus unterkamen, entdeckt wurde. "Ist es die Wahrheit? Wir wissen es nicht genau, aber es ist eine sehr plausible Erzählung", sagt van Twisk.

Gleichzeitig relativierte der Statistiker Frans Alkemade, der für das Forschungsteam Analysen durchführte, dem Nachrichtenportal "NRC" gegenüber die angeblich 85-prozentige Wahrscheinlichkeit, mit der das Szenario des Verrats durch Arnold van den Bergh zutreffe. Man berate sich über eine gemeinsame Erklärung, die die Zahl in den richtigen Kontext setze. Denn die Berechnung gehe davon aus, dass die Daten des Teams korrekt seien, sagt Alkemade. Selbst konnte er diese Vorannahmen jedoch nicht prüfen.

Deutsche Ausgabe in interner Überprüfung

Gerade die Tatsache, dass das Team hier vorgeblich messbare Ergebnisse liefere, sieht der Forscher David Barnouw, der sich selbst mit der Geschichte Anne Franks auseinandersetzte und in den 1980er-Jahren die wissenschaftliche Ausgabe ihres Tagebuchs herausgab, kritisch. "Diese 85 Prozent Wahrscheinlichkeit sind für Historiker ziemlich lächerlich. Geschichte ist keine Raketenwissenschaft", sagte er dem "Spiegel".

Wie mit der deutschen Ausgabe des Sachbuchs verfahren wird, deren Erscheinen für den 22. März angekündigt ist, bleibt aktuell ebenfalls noch offen. Der Verleger Jürgen Welte von Harper Collins Deutschland äußerte sich gegenüber der "Welt", dass nach dem Abschluss zweier Fachlektorate gerade eine interne Überprüfung laufe: "Der vergleichsweise späte Erscheinungstermin der deutschsprachigen Ausgabe zeigt, dass wir mit diesem sensiblen Thema äußerst verantwortungsvoll umgehen."

Derweil kritisieren immer mehr jüdische Verbände die Publikation des Werkes. Ronny Naftaniel, Vorsitzender des Verbandes jüdischer Organisationen in den Niederlanden (CJO), betonte der Nachrichtenagentur ANP gegenüber, dass der Verdacht gegen den Notar "äußerst spekulativ" sei. Presseagenturen zufolge forderte der Europäische Jüdische Kongress (EJC) vom internationalen Herausgeber, der Verlagsgruppe Harper Collins, das Buch nicht mehr zu verkaufen.

Die Autorin Sullivan, die zumindest "The Globe and Mail" zufolge sogar von einer 95-prozentigen Sicherheit des beschriebenen Tathergangs spricht, reagierte bisher ebenfalls nicht auf kritische Presseanfragen, soll aber am 15. Februar bei einer Onlineveranstaltung über das Werk sprechen. Auf ihrer Website erwähnte sie das Buch bisher nicht. (Julia Sica, 2.2.2022)